Wahre Größe

Wann ist ein Star ein Star? Vielleicht, wenn er gar keiner sein möchte? Oder wenn er über Jahrzehnte herausragende Leistungen abrufen kann? Für Sir András Schiff stellt sich die Frage nach dem Star-Begriff nicht.

Er ist unabhängig von solchen Kategorien ein Jahrhundertmusiker. Wo andere sich überheben würden, fühlt er sich pudelwohl. Das gilt nicht nur für die Qualität seines Musizierens, sondern auch für die Fülle seines Repertoires. Welcher Pianist der Gegenwart würde es wagen, Bachs »Goldberg-Variationen« und Beethovens »Diabelli-Variationen« in einem Konzert aufzuführen? Oder alle letzten Sonaten von Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert? Er, der Enzyklopädist, schafft das.  

András Schiff steht in voller Länge mit verschränkten Armen in einem dunkelblauen Gewand vor einer schlichten Wand.
Sir András Schiff © Nadja Sjöström

András Schiff, zum Sir geadelt, wagt sich regelmäßig ins Hochgebirge der Klavierliteratur und kann sich dabei auf sein phänomenales Gedächtnis verlassen. Darin gespeichert hat er eine riesige Bibliothek, darunter alle großen Klavierwerke von Bach, inklusive des »Wohltemperierten Klaviers«, außerdem sämtliche Sonaten und Konzerte von Mozart und Beethoven, die Kosmen von Schubert und Schumann. Nicht eingerechnet die vielen Kammermusik-Werke. Ein Mann mit einem schier unbegrenzten Speicher im Kopf – und mit dem nötigen Gefühl in Armen und Fingerspitzen, um all diese Noten auch als sprechende Botschaften in die Tastatur zu setzen. 

Auch als Dirigent ist Sir András Schiff gefragt. In dieser Disziplin ist er Autodidakt. Auch wenn er reine Orchesterwerke leitet, vertraut er auf seine Hände »Ohne Taktstock ist das Zeichengeben vielleicht weniger präzise, aber natürlicher, menschlicher«, erklärt er, »mich stört bei vielen Dirigenten die pure Taktschlagerei. Musik darf man nicht schlagen, sonst schlägt sie zurück. Sie muss atmen, pulsieren, leben.« Daher legt Schiff in seinem eigenen Orchester, der Cappella Andrea Barca, so viel Wert auf das Miteinander. »In unserem Orchester sind kammermusikalische Erfahrung und ein waches Aufeinander-Hören wichtige Voraussetzungen. Ohne geht es nicht. Viele unserer Streicher spielen im Streichquartett. Das Menschliche spielt eine zentrale Rolle.«

Vieles von dem, was ihm als Ideal vorschwebt, kann man auch erleben, wenn Sir András Schiff andere Orchester dirigiert. Ihm kommt es auf Ehrlichkeit an, auf Lebendigkeit, auf ein inneres Leuchten und auf das Miteinander. Wenn er mit seinen Fingern Linien in die Luft zeichnet, erkennt das Publikum sofort, wie sich einzelne Instrumente neu miteinander verbinden oder auf Impulse anderer Instrumente antworten. Mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment arbeitet Schiff bereits seit vielen Jahren zusammen. Sie haben unter anderem die Klavierkonzerte von Johannes Brahms und Robert Schumann aufgeführt und dabei einen völlig neuartigen Ansatz gefunden. Wenn Schiff auf einem historischen Flügel spielt und dieser mit dem ganz auf Transparenz zielenden Klang des Orchesters verschmilzt, so werden selbst bekannte romantische Konzerte zu einer neuartigen Form von vergrößerter Kammermusik. Ähnlich ist sein Ansatz, wenn er geistliche oder oratorische Werke aufführt, etwa von Bach oder Schubert. In Dortmund präsentiert András Schiff mit dem britischen Orchester ein Programm ausschließlich mit Musik von Joseph Haydn. »Ich glaube, er wird komplett missverstanden«, erklärt Schiff. »Seine wahre Größe wird unterschätzt.« Er kritisiert, dass man der Person Haydn und seiner Musik mit »so einer Art Schulterklopfen« begegnet: »Papa Haydn, der ist auch ganz hübsch.« Doch Schiff widerspricht energisch: »Mir ist es ganz unverständlich, warum viele Menschen diese einmalige Genialität von Haydn nicht erkennen. Er ist ein wirklicher Meister.«

Porträt von András Schiff mit geschlossenen Augen, nachdenklich die Hand an sein Gesicht gelegt, vor dunklem Hintergrund.
Sir András Schiff © Nadja Sjöström

Sein Künstlerleben lang hat sich Schiff immer wieder für die Musik Haydns eingesetzt, für die Sonaten, die Sinfonien, die chorischen Werke, die Kammermusik: »Seine Art zu Komponieren ist eine wahnsinnig ökonomische Art, etwa sein Umgang mit kleinsten Motiven. Beethoven hat fast alles von Haydn gelernt, obwohl er kein sehr dankbarer Schüler war. Insofern hat Beethoven für mich sehr viel mit Haydn zu tun.«

Wie bei Beethoven, so wird auch bei Haydn die Rolle des Humors gern unter den Teppich gekehrt. Dabei würde Haydn auch gut in unsere Zeit passen – mit seinem Hang für Pointen, für überraschende Wendungen, für blitzgescheiten Witz. Zentrales Moment in Haydns Musik sind außerdem die Pausen. »Das sind Scharnierstellen. Aber Pausen muss man aushalten«, erklärt Schiff. »Man muss sie erleben und ausklingen lassen. Da gibt es gewissen Freiheiten in der Interpretation. Pausen misst man nicht mit der Stoppuhr.«  

Text: Christoph Vratz

    • Mi 19.11.2025
    • 19.30 Uhr
    Sir András Schiff im Porträt vor einem Wandteppich

    Orchesterkonzert

    Sir András Schiff & Orchestra of the Age of Enlightenment

    Sinfonien und Klavierkonzerte von Joseph Haydn