Im Rampenlicht

Das Chineke! Orchestra, Europas erstes ethnisch diverses professionelles Orchester, steht für musikalische Exzellenz, kulturelle Vielfalt und neue Vorbilder – ein Ensemble des Wandels.

Als das Chineke! Orchestra im September 2015 zum ersten Mal die Bühne betrat, war das ein denkwürdiger, ein bewegender Moment – nicht nur für die Ensemblegründerin Chi-Chi Nwanoku. »Zum ersten Mal in meiner über 30-jährigen Karriere sah das Publikum aus wie die Bevölkerung meiner Stadt«, sagt die Londonerin im Interview mit der »Zeit«. »Ich habe so viele Menschen im Publikum weinen sehen, vor Erleichterung. Auf einmal sahen sie sich repräsentiert.«

Diese Reaktionen sind nicht verwunderlich. Jahrzehnte-, nein, jahrhundertelang haben Musikwissenschaft, Medien und andere Chronistinnen und Chronisten die Musikgeschichte als eine Geschichte weißer Menschen erzählt, eher noch: weißer Männer. Die Komponisten, deren Werk am meisten erforscht und reproduziert wird, deren Namen am geläufigsten sind, weil sie tagein, tagaus, landauf, landab auf die Konzertprogramme, Albumcover und in die Curricula geschrieben werden, sind auch deshalb so prominent, weil neben ihnen und um sie herum so viel unsichtbar gemacht wurde. »›Genie‹ ist in der Musiktheorie ein Code für ›weiß‹ und ›männlich‹«, schließt etwa der Musikwissenschaftler Phil Ewell aus seiner Forschung. Frauen wurde es auf vielfältige Weise schwer gemacht, Fuß zu fassen in der Musikgeschichte – egal, wie bahnbrechend sie komponierten oder musizierten. Das gleiche gilt für Menschen, die nicht weiß sind – und das setzt sich fort.

Foto des Chineke! Orchestra im Rahmen eines Konzerts
Chineke! Orchestra © Chuko Cribb

Das Chineke! Orchestra ist deshalb ein besonderer Raum: Hier spielen im Gegensatz zu allen anderen europäischen Orchestern mehrheitlich Schwarze Menschen und People of Colour – Chi-Chi Nwanoku sagt dazu »Schwarz und ethnisch divers«. Und sie spielen neben dem geläufigen Repertoire Werke von Komponisten und Komponistinnen of Colour. In ihrem allerersten Konzert vor zehn Jahren interpretierte das Ensemble unter der Leitung von Wayne Marshall unter anderem Samuel Coleridge-Taylors Ballade für Orchester und Philip Herberts »Elegy (In memoriam Stephen Lawrence)« neben Ludwig van Beethovens 7. Sinfonie.

»Die Musik ist Teil der Welt, und die Welt spiegelt sich in der Musik«, sagt Chi-Chi Nwanoku im Interview mit der »NZZ« vor drei Jahren. Es gehe nicht einfach nur darum, in einem ethnisch diversen Raum Beethoven zu spielen – sondern um den Kampf, »dass diese Kunst jeden erreichen kann, dass sie für jeden zugänglich ist und auch von jedem auf der Welt gespielt werden kann«. Chi-Chi Nwanoku kennt die Erfahrung selbst, überall die andere, die Ausnahme zu sein: Als angesehene Kontrabassistin in Großbritannien war sie in den Orchestern, in denen sie spielte, stets die einzige Schwarze Person. »Aber nicht nur auf der Bühne, sondern im ganzen Saal«, sagt sie. »Das Publikum, alles vor dem Haus, hinter dem Haus, das Management – sogar die Musik auf der Bühne reflektierte mich und meine Lebensrealität nicht. Und ich konnte nicht einmal an einer Hand abzählen, mit wie vielen Schwarzen Musikerinnen und Musikern ich vor Chineke! zusammen im Orchester gespielt hatte.«

Das Chineke! Orchestra vereint seit zehn Jahren nun Musikerinnen und Musiker, die diese Erfahrung teilen und teilweise gegen massive Widerstände ankämpfen mussten, um ihr Instrument lernen und studieren zu können, um anschließend eine Stelle zu finden und von ihrer Arbeit leben zu können. In den meisten Fällen mussten sie massiv besser sein als ihre Konkurrenz – solistisch genau wie im kollektiven Zusammenspiel. Da scheint es absurd betonen zu wollen, wie herausragend das Chineke! Orchestra musiziert – man hört es in jeder einzelnen Aufnahme, in jedem der exzellenten Konzerte, ob nun in der Royal Albert Hall, bei den »BBC Proms«, dem »Lucerne Festival« oder der Elbphilharmonie. Erst im Juni dieses Jahres debütierte das Ensemble mit der Londoner Rapperin Little Simz im Southbank Centre, wo sie das 30. »Meltdown Festival« kuratiert hatte – der »Guardian« schrieb von einer »überwältigenden Energie im Saal«. Davon abgesehen scheint die mit dem Chineke! Orchestra gewachsene Sichtbarkeit auf der Klassikbühne auch einen gesellschaftlichen Effekt zu haben: »Seit 2015 bewerben sich etwa viermal so viele Schwarze Kinder an Musikhochschulen und werden dort angenommen«, sagt Chi-Chi Nwanoku. Ein Teil dieser Kinder kommt aus dem Chineke! Junior Orchestra – wie übrigens auch der Cellist Sheku Kanneh-Mason, der mittlerweile zusammen mit seiner Schwester, der Pianistin Isata Kanneh-Mason, eine Weltkarriere bestreitet.

Text: Hannah Schmidt

    • Do 02.10.2025
    • 19.30 Uhr
    Sheku und Isata Kanneh-Mason sitzen auf Kisten

    Diese Veranstaltung liegt in der Vergangenheit!

    Orchesterkonzert

    Chineke! Orchestra & Sheku und Isata Kanneh-Mason

    Beethoven »Tripelkonzert« und Dawson »Negro Folk Symphony«