Tiefsinn mit Weitsicht

  • Alfred Steffen
    © Alfred Steffen
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  • Emile Ducke · The New York Times · Redux · laif
    © Emile Ducke · The New York Times · Redux · laif

Er liebt die Metamorphose, und er lebt sie. Wenn er Stücke über eine längere Zeit erarbeitet hat, wenn er sie ausprobiert, liegenlässt, wieder aufnimmt und dann auch aufführt, beginnen diese Werke ein Eigenleben. »Nehmen wir die Beethoven-Sonaten, die ich zyklisch oder in kleineren Gruppen in den letzten Jahren oft gespielt habe. Da ist es doch natürlich, dass ich einen Wandel erlebe, ich an mir und mit diesen Stücken«, sagt Igor Levit. Über wenige Pianisten ist in jüngerer Vergangenheit so viel geschrieben und berichtet worden. Kaum ein klassischer Musiker ist medial so präsent wie er. Ob als Wahlkämpfer oder als Mitglied der Bundesversammlung, als Talkshow-Gast oder als Geehrter bei Preisverleihungen, auch außerhalb des musikalischen Kerngeschäfts. Etwa 2020, als Levit vom Internationalen Auschwitz Komitee für sein Engagement gegen Antisemitismus und rechtsextremen Hass geehrt wurde. »Diese Auszeichnung hat mich sprachlos gemacht. Wenn Sie neben einem Mann sitzen, der Auschwitz überlebt hat, und einem dabei die Historie und ihr Kontext so unmittelbar bewusst werden, dann ist das berührend und bewegend und macht einfach sprachlos«, erklärt Levit, dem es ansonsten fast nie an Worten mangelt. Doch auch solche Momente fließen in seine Interpretationen ein. Über das »Wie« hingegen herrscht Unklarheit. Levit zögert. »Ich weiß nicht, ob das Publikum die möglichen Auswirkungen überhaupt spüren kann. Ich habe auch keine Kontrolle darüber, wer das hören und merken wird. Es ist vielleicht das Einzigartige an Musik oder Kunst generell, dass Empfindungen sich nicht verallgemeinern lassen. Ich kann ein Werk spielen und dabei das größte Glück empfinden, und im Saal sitzt eine Zuschauerin, die im selben Moment den größten Schmerz empfindet – das eine ist so wahrhaftig wie das andere. Diese Art von Freiheit, Kunst unterschiedlich erleben zu können, ist ein riesiges Geschenk.«

Bei Igor Levit ist vieles anders als bei anderen Musikern – und das schon seit Studienzeiten, als er in Hannover einen Abschluss hinzauberte, den es bis dato an dieser Hochschule und in dieser Qualität noch nie gegeben hatte. Mutig auch, sein erstes Album relativ lange hinauszuzögern, obwohl sein Name längst schon als Versprechen für die Zukunft durch viele Zeitungen und Zeitschriften geisterte. Dann, 2013, folgte endlich das erwartete CD-Debüt, mit den letzten fünf Beethoven-Sonaten – eine Herkulesaufgabe, erst Recht für junge Pianisten. Ohnehin ist da eine Vorliebe für die großen Brocken des Repertoires: Bachs Partiten, die »Goldberg-Variationen«, Beethovens »Diabelli-Variationen« oder Frederic Rzewskis »The people united will never be defeated«. Auch Schostakowitschs Präludien und Fugen sind ein riesiger Kosmos, nur weniger bekannt. Überhaupt: Da ist Levits herausragende Fähigkeit, ein riesiges Pensum in erstaunlich kurzer Zeit zu erlernen. Gemeint sind nicht nur die Noten, sondern auch deren geistige Durchdringung, egal ob solo oder die großen Konzerte, ob Kammermusik oder im Klavier-Duo. Oder, eingeschränkt, im Lied: »Meine Arbeit im Lied-Bereich steht und fällt mit Tenor Simon Bode. Er ist gefühlt der einzige, mit dem ich so eng zusammenarbeiten kann. Wir sind zusammen aufgewachsen, haben gemeinsam studiert.«

Levit nähert sich Komponisten der Vergangenheit von heute aus: »Ich habe Noten, ich habe Dokumente und Bücher. So versuche ich die Komponisten zu verstehen. Aber ich kenne sie dadurch nicht wirklich. Ich würde nicht behaupten, dass ich einen Komponisten der Vergangenheit wirklich spüren kann. Ich spüre die Menschen, die mich heute umgeben, und diese Erfahrungen wiederum prägen mich.« Insofern sieht sich Igor Levit als Wahlverwandter von Ferruccio Busoni, der sinngemäß behauptet hat, dass man die Musik aus ihrer Einengung in Form von schwarzen Punkten in die Unendlichkeit überführen müsse. Anders gesagt: Levit versucht, einen glaubwürdigen, einen authentischen Zugang zur Musik zu ermöglichen. Das geschieht bei ihm mit einer Mischung aus Intellekt, schneller Auffassungsgabe, Selbstbewusstsein und Bodenhaftung. Igor Levit scheint immer gewappnet, egal ob man mit ihm über Musik spricht oder tagesaktuelles Weltgeschehen. »Als Künstler zu meinen, man stehe über allen gesellschaftlichen Dingen, ist ein Luxus, den wir uns in der jetzigen Situation nicht mehr leisten können.«

Levit begann mit vier Jahren Klavier zu spielen, in Nischni Nowgorod (dem ehemaligen Gorki), wo ihm seine Mutter, eine Enkel-Schülerin des großen Heinrich Neuhaus, die ersten Tastenübungen nahebrachte. Mitte der 90er-Jahre entschied sich die Familie, Russland zu verlassen. Man besaß ein Visum für Australien – und landete in Hannover. Levit begann sein Studium. Die weitere Erfolgsgeschichte ist bekannt. Heute betrachtet er sich als weitgehend frei. »Meine Auffassungen über das Leben, über Gesellschaft, über Politik sind nicht abhängig von einer Beethoven-Sonate. Wenn Du als Künstler nicht politisch sein möchtest oder kannst, ist das völlig in Ordnung. Dann aber bitte möge man auch konsequent sein.« Suspekt ist ihm, wenn behauptet wird, Musiker seien per se Friedensstifter in der Welt oder Musik sei eine internationale Sprache, die alle Menschen zusammenführt. »Dem ist nicht so. Wir kennen nur fünf Prozent Musik der Welt, etwas mehr oder eher noch etwas weniger. Musik kann leicht gebraucht und missbraucht werden. Darin liegt eine Gefahr.«

In Dortmund wird Levit nun ein Werk aufführen, mit dem er noch nicht so oft in Erscheinung getreten ist: das Klavierkonzert von George Gershwin, entstanden 1925 im Windschatten des Erfolgs der berühmten »Rhapsody in Blue«. Ein Werk, dessen Vielschichtigkeit zur Metamorphosen-Willigkeit des Igor Levit bestens passt.

    • So 29.05.2022
    • 16.00 Uhr

    Orchesterkonzert

    Igor Levit & Orchestre de Paris