Liebe das Ungewöhnliche

Mit der Interpretation von Erik Saties »Vexations« stellt sich Roman Borisov im Konzerthaus Dortmund einer besonderen Herausforderung: einem 15-stündigen Klaviermarathon. Im Interview erzählt er, warum.

Schwarzes Fragezeichen mit Herzpunkt, gefüllt mit weißem Text zu einer Klavierperformance von 15 Stunden, darunter der Hinweis auf Saties »Vexations«.

Mitten in Berlin liegt die Hanns Eisler Musikhochschule: Hier verbringt Roman Borisov einen Großteil seiner Zeit, Tag für Tag. An der renommierten Institution studiert der 22-Jährige Klavier – wenn er nicht auf den Bühnen großer Häuser und Festivals auftritt. Als jüngster Teilnehmer gewann Roman Borisov 2022 den »Kissinger KlavierOlymp«, im Februar 2025 veröffentlichte der in Nowosibirsk geborene Künstler sein erstes Solo-Album mit Werken von Leopold Godowsky, César Franck und Sergej Rachmaninow. 

Das französische Wort »Vexations« bedeutet übersetzt »Quälereien«. Schon der Titel deutet an, dass es sich weniger um ein klassisches Werk als eine musikalische Grenzerfahrung handeln mag. Was hat Sie dazu bewogen, dieses außergewöhnliche Musikstück zu spielen?

Ich liebe das Ungewöhnliche. Verglichen mit dem, was wir Pianisten in der Regel spielen, ist es nicht typisch. Das Werk selbst ist eine Herausforderung. Und die größte Herausforderung wird für mich sein, da durchzugehen. Ich bin gespannt, was am Ende passieren wird. Mit mir. Was es mit mir macht.

Saties »Vexations« gelten als ein Rätsel der Musikgeschichte: ein kurzes Motiv und eine beiläufige Anweisung, dieses 840 Mal zu wiederholen. Manche vermuten dahinter einen Scherz des französischen Komponisten, andere einen Vorausblick auf die repetitive Kunst der Minimal Music. Wie sehen Sie das?

Die Frage, was es für mich ist, ist schwierig zu beantworten – das kann ich wohl erst nach dem Konzert sagen. Doch es stimmt: Wir wissen nicht, was Saties Absicht war. Wir wissen nicht einmal, ob er selbst »Vexations« jemals gespielt hat – egal ob für nur drei Minuten oder 17 Stunden. Und es ist auch nicht bekannt, wie es zu den 840 Wiederholungen kam. Was Satie hinterlassen hat, ist,
dass man sich in Ruhe vorbereiten soll, wenn man das Werk mit dieser Anzahl an Wiederholungen spielt. 

Sie haben es bereits erwähnt: Satie hat eine Anweisung zur Vorbereitung hinterlassen. Diese solle »in größter Stille durch ernsthafte Unbeweglichkeit« erfolgen. Orientieren Sie sich daran?

Porträt von Roman Borisov, nachdenklich in die Kamera blickend, mit der Hand an Wange und Kinn.
Roman Borisov © Felix Broede

Da ich während des Konzerts stundenlang sitzen werde, muss ich mich vorher bewegen (lacht). Was die praktischen Vorbereitungen betrifft: Ich habe begonnen, das Stück täglich zehn Minuten lang zu spielen. Muskeln verbrauchen weniger Energie, wenn sie die Bewegungen kennen. Das muss ich berücksichtigen. Außerdem habe ich angefangen, ins Fitnessstudio zu gehen (schmunzelt). So
lange zu spielen, ist schon hart. Ich denke, der 20. September wird ein Tag sein, an den ich mich mein ganzes Leben lang erinnern werde.

Das Konzert wird auch für Kinder und Jugendliche etwas Besonderes sein. Es fällt auf den Weltkindertag, findet für einen guten Zweck statt und immer dann, wenn Sie eine kurze Pause brauchen, sollen Kinder und Jugendliche für Sie am Flügel übernehmen… 

Ja, wir verbinden mit dem Konzert einen Benefizgedanken und arbeiten mit Save the children zusammen. Das war mir wichtig. Und ich glaube auch, dass es eine schöne Erfahrung für Kinder ist, wenn sie zunächst einen Teil mit mir vierhändig spielen und dann alleine, bis ich von der Pause zurück bin. Ich finde, es ist wichtig für Kinder, ein Gefühl für Musik zu bekommen. Musik ist eine Möglichkeit der direkten Kommunikation. Ich persönlich mag auch den direkten Austausch mit dem Publikum – zum Beispiel
in Form von Gesprächen vor oder nach dem Konzert. So versteht das Publikum, dass es ein wichtiger Teil des Prozesses ist; dass es dabei ist.

Welche Reaktionen wünschen Sie sich von den Zuhörerinnen und Zuhörern im Konzerthaus?

Ich weiß, dass es wahrscheinlich unmöglich ist: Aber es wäre toll, wenn jemand von Anfang bis Ende dabei ist. Zusammen mit mir. Natürlich werden Zuhörerinnen und Zuhörer kommen und gehen. Aber wenn jemand die ganze Zeit zuhört: Ich glaube, das hat einen besonderen Effekt, da passiert etwas mit einem. Auf der anderen Seite ist es sicherlich auch interessant, wenn Zuhörinnen und Zuhörer am Morgen 30 Minuten lang im Saal sind, dann nach fünf Stunden wiederkommen und ein paar Stunden später wieder. So können sie vergleichen. Es ist dann viel einfacher, Veränderungen zu bemerken.

Wie erarbeiten Sie sich ein Werk?

Ich versuche, es eher pragmatisch anzugehen. Ich bin ein sehr pragmatischer Mensch. Und mir ist es wichtig, ein Stück tiefer zu verstehen, an dem ich arbeite. Für mich persönlich ist es die beste Interpretation, wenn ich in Worte fassen kann, warum ich ein Stück auf eine bestimmte Art spiele. Wenn mir der Grund selbst klar ist, bin ich in meiner Arbeit an einem guten Punkt.

Dann spielt Struktur für Sie eine große Rolle? 

Ja, die Struktur ist einer der wichtigsten Punkte. Musik ist »Time Art«. Bei einem Gemälde reicht zunächst eine Sekunde, um es zu erfassen. Dann schaut man vielleicht noch einmal genauer hin. Bei einer Komposition, die zum Beispiel zehn Minuten dauert, braucht man auch diese zehn Minuten, um sie zu verstehen. Wenn es keine klare Struktur gibt, fällt es auseinander. 

Es scheint so, dass Saties Komposition zu Ihnen und dieser Herangehensweise passt. Da geht es ja auch, wenn man es so sehen will, um Pragmatismus – von der Herangehensweise bis hin zu der Struktur des Werks. 

Ja, das mag ich (lacht). Deswegen hat mich diese Komposition von Anfang an gereizt. Sie hat eine sehr interessante, ungewöhnliche Struktur, ohne ersichtliche Entwicklung. Das heißt aber für mich nicht, dass Gefühle dabei keine Rolle spielen. Die Emotionen kommen, wenn die Struktur klar ist. Sie sind »the top of the cake«. 

Text: Corinna Ludwig

    • Sa 20.09.2025
    • 08.30 Uhr
    Roman Borisov lehnt an einem Flügel

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