Joyce DiDonato will mehr sein als nur eine Sängerin der schönen Töne. Denn mit jedem Ton hat sie etwas zu sagen.
Joyce DiDonato steht an einem braunen Rednerpult. Auf ihrem blonden Haar sitzt ein roter Hut, vor ihr 289 junge Musik- und Kunststudierende. »Ihr seid hier, um den Worten, den Komponistinnen und Komponisten, der Melodie zu dienen«, sagt die Mezzosopranistin in das filigrane Mikrofon vor sich. »Aber vor allem und am grundlegendsten, mit jedem Atemzug, jedem Schritt und jedem Anschlag auf der Tastatur seid ihr hier, um der Menschheit zu dienen.« Es ist ein wolkiger Maivormittag 2014 in New York, und Joyce DiDonato hat gerade die Ehrendoktorwürde der Juilliard School erhalten. Ihr erstes Engagement an einer Opernbühne ist zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre her, längst ist sie eine preisgekrönte Interpretin von internationalem Rang. Doch irgendwie hebt sie nicht ab. Sie wirkt im Gegenteil geerdet und fast familiär, wie sie da vor den Studierenden steht und zu ihnen spricht. Allerspätestens in dieser Rede wird klar, dass sich diese Sängerin nicht nur als Sängerin versteht – sondern immer auch als gestaltender Teil dieser Gesellschaft. Als Aktivistin.
Joyce DiDonato wächst mit sechs Geschwistern in einem kleinen Vorort von Kansas City in Missouri auf. Schon früh träumt sie von einer Karriere als Sängerin – Musical ist damals noch ihre Leidenschaft. Nach ersten entsprechenden Studienjahren an der Bishop Miege High School in Kansas verlagert sich ihr Fokus aufs Musiktheater und, nachdem sie im Fernsehen einen Mitschnitt des »Don Giovanni« sieht, mehr und mehr auf die Oper. Das passiert allerdings reichlich spät – erst mit knapp 20 Jahren. »Mein Vater hat mich zwar auch vorher schon mal mit in die Oper genommen«, sagt die Sängerin dem Musikmagazin »hello«. »Aber da hat sie mich noch nicht gefesselt. Erst als ich mit meinem Musikstudium angefangen habe, konnte ich verstehen, wie viel Technik und Mühe hinter dem Gesang steckt. Da hat Oper meine Welt gerockt und mein Leben total verändert.«

Joyce DiDonato bleibt eine Spätzünderin: Bei ihrem ersten Auftritt an der Metropolitan Opera ist sie bereits 35 Jahre alt, ihren ersten Plattenvertrag bekommt sie mit 37. Das macht den Anfang nicht gerade leicht: »Ich musste zusehen, wie ich meinen Lebensunterhalt verdiene«, sagt sie dem »Tagesspiegel« in einem Interview. Daher schlägt sie sich als Kellnerin in einem Restaurant durch, balanciert Bier und Wein, flambiert am Tisch Tournedos Rossini für ihre Gäste. Rückblickend sagt sie, dass das kein schlechter Lauf der Dinge war – im Gegenteil, es habe ihr geholfen. »Ich bin auf die Oper gestoßen, als ich bereit war«, sagt sie. »Ich würde nichts ändern wollen an meiner Karriere.«
Vielleicht ist genau das der Grund, warum Joyce DiDonato an diesem Vormittag an der Juilliard School so nahbar wirkt. Sie war gezwungen, sich auf ihrem Weg mit der Welt da draußen auseinanderzusetzen, für den Elfenbeinturm war schlicht und einfach kein Platz und keine Zeit. In ihrer Arbeit, ihren Rollen auf der Bühne, ihren Alben geht es ihr dementsprechend auch nie nur um die perfekte Koloratur oder den schönsten, reinsten Ausdruck: Sie will mit allem, was sie tut, die Welt zu einem etwas besseren Ort machen. In ihren Auftritten und Rollen, ihren Alben und Interviews geht es deshalb auch um gesellschaftliche Ungleichheiten und Diskriminierung, die Klimakatastrophe und den Krieg, um quälende Fragen, wie Frieden auf der Welt möglich sein kann. Dabei arbeitet DiDonato nicht nur auf der Bühne und im Aufnahmestudio, sondern auch im direkten menschlichen Kontakt. An der Carnegie Hall etwa gibt sie Meisterkurse für junge Sängerinnen und Sänger, die sie live in die ganze Welt überträgt. Mit dem Blog »Joyce’s Journal« gewährt sie Einblick hinter die Kulissen ihrer Arbeit und teilt Gedanken zur Bedeutung der klassischen Musik. In Partnerschaften mit Gefängnissen arbeitet DiDonato mit Insassen an ihren eigenen musikalischen Kompositionen, in ihrem »Lullaby Project« bringt sie Schwangere und junge Eltern mit professionellen Künstlerinnen und Künstlern zusammen, mit denen sie persönliche Schlaflieder für ihre Kinder schreiben und singen lernen. Und in Zusammenarbeit mit dem Projekt »El Sistema Greece« unterrichtet sie geflüchtete Kinder und will sie anregen, auf eine bessere Zukunft zu hoffen. Man könnte noch viele Projekte in dieser Reihe aufzählen. Für DiDonato ist es »selbstverständlich, dass man sich nicht über andere Leute erhebt, dass man weiß, jeder gibt sein Bestes und hat eine Chance verdient«.

Die Sängerin hat den »American Dream« tief verinnerlicht: Wenn sie als Zugabe oft den Musical-Song »Over the rainbow« singt, das Lied, das sie als Kind vor dem Spiegel »mit dem Bürsten-Mikrofon und dem Traum, auf der Bühne zu stehen« gesungen hat, dann ist das für sie immer auch eine persönliche Überzeugung: »Du kannst alles schaffen, was du dir in den Kopf setzt.« Und tatsächlich hat sie auch alles geschafft, was sie sich vorgenommen hat. Irgendwie ehrt es die Sängerin, dass sie so fest daran glaubt, dass sich dieser Glaubenssatz auf alle Menschen anwenden lässt – angesichts der harten Realität, der doch die Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten ausgesetzt ist. Rund 700 Millionen Menschen leben im Jahr 2024 unter der Armutsgrenze, während fast 50 Prozent des globalen Vermögens sich auf 1,5 Prozent der erwachsenen Bevölkerung verteilt. 2023 lebten rund 5,7 Milliarden Menschen in geschlossenen oder Wahl-Autokratien – also alles andere als in Freiheit. Wer kann so »alles schaffen«, was er oder sie sich in den Kopf gesetzt hat? Es sind die wenigsten. Joyce DiDonato ist das bewusst. Und trotzdem zerbricht sie nicht daran, sondern macht weiter. In Dortmund hat sie als Curating Artist ein eigenes Programm konzipiert, das das Publikum nicht nur unterhalten, sondern auch trösten kann, ermutigen und empowern. Und vielleicht inspirieren. Denn nicht nur Künstlerinnen und Künstler können sich das Credo der Juilliard-Rede, der Menschheit zu dienen, hinter ihre Ohren schreiben – sondern natürlich auch diejenigen, die nach dem Konzert die Welt der Musik wieder verlassen.