Foto einer Weinbergschnecke vor Notengrafik
© Oliver Hitzegrad

Più lento

Der Zauber der Langsamkeit

Das neue SLOW Festival am Konzerthaus holt sein Publikum musikalisch ins Hier und Jetzt.

Schneller, höher, weiter: Die Schnelllebigkeit und Komplexität unserer Zeit beißt sich oft mit dem, wonach wir wirklich streben. Lebensqualität statt Quantität der Dinge etwa, Authentizität und Respekt vor dem, was uns umgibt. Mit einem ganzen Festival der Langsamkeit lädt das Konzerthaus dazu ein, in Resonanz mit sich selbst, mit anderen und natürlich mit Musik zu treten.

Die Idee von »Slow« tauchte in Form von Slow Food zum ersten Mal im Italien der 1980er-Jahre als Gegentrend zum Fast Food auf. Sie hat später in weitere Bereiche wie Mode und Reisen Einzug gehalten, durch Initiativen wie die des Concertgebouw in Brügge seit ein paar Jahren auch in die Welt der Musik. 2025 stehen in Dortmund 36 Stunden nonstop Slow Music und mehr auf dem Programm, von sinnlich bis intellektuell, von visuell bis auditiv. Im eigenen Tempo kann man sich hier auf eine andere Art des Hörens einlassen. Und gleichzeitig geht es um mehr als Hören, geht die Erfahrung auf den ganzen Körper über: Langsam bedeutet auch eindrücklich für Leib und Seele.

»My walking is my dancing. – Mein Gehen ist mein Tanzen.« Anne Teresa De Keersmaeker, Choreografin des SLOW Walks
 

© Oliver Hitzegrad
 

Das Festival startet mit dem SLOW Walk durch die Stadt in die Langsamkeit. Aus allen vier Himmelsrichtungen geht es zum Konzerthaus, auf Wegen, die die Teilnehmenden vielleicht jeden Tag gehen. In einem Meter pro fünf Sekunden erleben sie den Alltag ganz neu, wird das Gehen zur bedächtigen, tänzerischen Erfahrung. Ein kurzer Tanzworkshop auf dem Platz am Apfelbrunnen schafft die Brücke ins benachbarte Konzerthaus, dem Ort des Geschehens für die nächsten Stunden.

Im Konzerthaus spielt die Entschleunigung auf jeder Etage und in verschiedenen Bereichen eine Rolle: räumlich durch eine künstlerisch inszenierte Wegführung und Orte zum Entspannen, aber  auch durch Meditationsangebote vor den Konzerten, Hörstationen, Slow Food und Teezeremonien oder das Ritual des Sandmandala-Streuens, bei dem man sich der Fokussierung der tibetanischen Mönche anschließen kann. Beim Schlendern durch das Haus gibt es viele Angebote zu entdecken, die ganz individuell und so oft man möchte genutzt werden können.

Im ersten Konzert des Festivals führt Geiger und Dirigent Hugo Ticciati Mitglieder seines O/Modernt Chamber Orchestra zu einem Streichquartett-Programm nach Dortmund, das hält, was der  Titel SLOW Festival verspricht: Jürg Freys Quartett mit dem Untertitel »Unhörbare Zeit« etwa ist eines der Werke, die mit Licht und Bewegung in eine ruhige Atmosphäre tauchen lassen. Auch Meisterpianist Pierre-Laurent Aimard kombiniert langsame Sätze aus Bachs »Wohltemperiertem Klavier« mit der spirituellen Musik Olivier Messiaens. Doch es bleibt nicht bei äußerlich langsamer Musik. Zyklische Meisterwerke weisen ebenso den Weg zur inneren Ruhe, wie beim Bach-Programm der Geigerin Isabelle Faust: Das Zuhören führt hier in einen inneren Prozess der Verlangsamung und des Zur-Ruhe-Kommens, in einen eigenen Rhythmus.

© Oliver Hitzegrad
 

Ein Festival mit durchgängigem Programm – diese Ankündigung setzt vor allem die SLOW Night in die Tat um. In dieser meditativen Nachtwache durchziehen sanfte Gesänge, ruhig gesprochene Worte und die Klänge der Orgel den zart erleuchteten Kirchenraum der mittelalterlichen Petrikirche. Ein verwachsener Klangpfad, der die Nacht bis in die frühen Morgenstunden trägt, lässt Musik des Mittelalters, der Renaissance und unserer Zeit nahtlos ineinanderfließen – eine Atmosphäre, die zum Entschleunigen, Innehalten und Zuhören einlädt. Das Publikum bewegt sich durch den Raum oder verweilt, während die Musikerinnen und Musiker des Vokalensembles Cantando Admont wie himmlische Trabanten an ihm vorbeiziehen.

»Im Musikhören erleben wir, was es heißt, sehnsüchtig, isoliert, euphorisch, liebend auf ›Welt‹ bezogen zu sein – die Verbundenheit geht über die Ohren.« Hartmut Rosa, Soziologe und Politkwissenschaftler

Einen intellektuellen Impuls gibt der Soziologe Hartmut Rosa mit einer Key Note. Er hat den wissenschaftlichen Diskurs um Entschleunigung, Resonanz und Unverfügbarkeit maßgeblich geprägt und nähert sich dem Begriff »Slow« auf verschiedenen Ebenen. Als Wissenschaftler und Musikliebhaber gibt Rosa Impulse, was diese Kategorien sowohl für den ästhetischen Hörgenuss als auch das tägliche Leben bedeuten können. Den Abschluss des Festivals bildet das performative Programm »Echoes and Transformations« von Hugo Ticciati und dem O/Modernt Chamber Orchestra. Es umspielt John Cages berühmtes »4’33«, in dessen minutenlanger Stille ein ganzes Klanguniversum widerhallt. Die Musikerinnen und Musiker bewegen sich durch den Raum, spielen und summen faszinierend stimmungsvolle Werke, bis aus dem mechanischen »schneller, höher, weiter« ein neuer Puls wird, den das Publikum als ganz individuellen inneren Rhythmus mitnimmt. Je langsamer die Erfahrung, desto intensiver die Erinnerung.