Das Legato im Leben

Ein mit Bratscher Antoine Tamestit, Cellist Johannes Moser und Chorwerk Ruhr prominent besetztes Zeitinsel-Festival ehrt die große russische Komponistin Sofia Gubaidulina.

An diesen Tag kann sich Sofia Gubaidulina natürlich auch 63 Jahre danach nur allzu gut erinnern. Es war im Frühjahr 1959, als sie mit ihrem Kompositionslehrer den großen Dmitri Schostakowitsch in seinem Zuhause besuchte, um ihm ihr jüngstes Werk zu zeigen. Als Abschlussarbeit am Moskauer Konservatorium hatte Gubaidulina eine Sinfonie geschrieben. Und nachdem sie Schostakowitsch das Werk auf dem Klavier vorspielen durfte, gab er ihr einen Ratschlag: »Seien Sie Sie selbst, haben Sie keine Angst, Sie selbst zu sein. Ich wünsche Ihnen, dass Sie auf ihrem eigenen ›falschen‹ Weg weitergehen.« Einige Wochen später bekam sie für ihre Sinfonie die Bestnote. 

Doch nicht diese akademischen Weihen sollten sie motivieren, dem Komponieren ihr Leben zu widmen. Es waren Schostakowitschs Worte, die für die damals 28-Jährige zum Leitspruch für ihr weiteres Leben wurden. Wie stark ihr daher auch bisweilen der Gegenwind von offizieller Seite entgegen blies (und dies konnte in der damaligen Sowjetunion lebensbedrohlich werden, wie das Beispiel Schostakowitsch zeigte) – Sofia Gubaidulina blieb trotz aller Widrigkeiten des musikalischen und damit auch des alltäglichen Lebens stets sie selbst.

Heute, viel mehr als ein halbes Jahrhundert nach dieser schicksalhaften Begegnung, weiß die 91-jährige Komponistin, dass sie mit ihrer Courage und ihrem Selbstvertrauen alles richtig gemacht hat. Sie zählt längst zu den meistgespielten Komponistinnen der Gegenwart. Ihre Werke wurden und werden von den namhaftesten Interpreten gespielt, von Mstislav Rostropowitsch über Gidon Kremer bis hin zu Anne-Sophie Mutter. Und unter der Flut an internationalen Preisen und Auszeichnungen findet sich nicht nur mit dem »Polar Music Prize« der inoffizielle »Nobelpreis« für Musik. 1992 und damit im Zuge der Perestrojka machte nun auch die russische Heimat ihren Frieden mit ihr und verlieh ihr den »Russischen Staatspreis«.

Die breite Resonanz auf Gubaidulinas beachtliches wie facettenreiches Schaffen liegt nicht zuletzt an der enorm intensiven Sinnlichkeit und bewegenden Kraft, mit der sie direkt die Seele ansprechen will. Dabei verwendet sie durchaus avancierte Kompositionstechniken. Zugleich aber spielt von jeher die Tradition, die jahrhundertealte Musikgeschichte eine große Rolle in ihrem Klangdenken. Sie hat sich schon immer mit dem Instrumentarium der russischen und kaukasischen Volksmusik beschäftigt, vor allem mit dem russischen Akkordeon Bajan, für das sie zahllose Stücke geschrieben hat. Zudem gehört Johann Sebastian Bach zu ihren künstlerischen wie religiösen Bezugspunkten. Denn so wie Bach seine Gottesfürchtigkeit stets auch unter seinen Partituren mit dem Bekenntnis »Soli Deo Gloria« zum Ausdruck brachte, so sind viele der Werke von Gubaidulina ohne ihren christlichen Glauben nicht denkbar. »Ich bin ein religiöser russisch-orthodoxer Mensch«, sagt sie. »Ich verstehe Religion im wörtlichen Sinne des Wortes als ›religio‹, das heißt als Wiederherstellung des Legatos im Leben. Dies ist die wichtigste Aufgabe der Musik.«

Gubaidulinas Religiosität spiegelt sich in ihren Werken im Spirituellen sowie bisweilen auch in der Struktur eines Stücks wider. Wie etwa in dem Duowerk »In croce« für Violoncello und Bajan, bei dem die Stimmen der beiden Instrumente sich aus gegensätzlichen Richtungen aufeinander zubewegen und sich »durchkreuzen« (croce). 1979 entstand dieses faszinierende Glaubensbekenntnis, wobei Gubaidulina die Bajan-Fassung für die Bajan-Virtuosin Elsbeth Moser schrieb.

Elsbeth Moser gehört denn nun auch zu den vielen Musikergästen, die Sofia Gubaidulina und ihre Musik im Rahmen der mehrteiligen Zeitinsel feiern. Von der Kammer- und der Orgelmusik über Chorwerke bis hin zu dem vom französischen Star-Bratscher Antoine Tamestit aufgeführten Violakonzert reicht da der Bogen. Und selbstverständlich gibt es ebenfalls immer wieder Querbezüge zu musikalischen Seelenverwandten. Beim Konzert mit dem WDR Sinfonieorchester steht Schostakowitschs 9. Sinfonie auf dem Programm. Das Chorwerk Ruhr stimmt nicht nur mit handverlesenen Solisten wie Cellist Narek Hakhnazaryan Gubaidulinas »Sonnengesang« an, den sie einst für Rostropowitsch komponiert hat. Es erklingen Meisterwerke der von Gubaidulina so maßlos bewunderten franko-flämischen Polyfonie sowie eine Auftragskomposition von Martin Wistinghausen. Und dass die seit Anfang der 1990er-Jahre unweit von Hamburg lebende Komponistin sich musikalisch nie irgendwelchen Ideologien und Neue-Musik-Moden verschrieben hat, sondern stets sie selbst geblieben ist, unterstreicht auch ihr »Märchenpoem«. Einfach magisch schön ist diese Musik, die Sofia Gubaidulina für Kinder und Erwachsene zugleich geschrieben hat.