Konzerthaus Dortmund

Einfach anders

Hilary Hahn ist eine der erfolgreichsten Geigerinnen unserer Zeit, eine herausragende Künstlerin. Ihre Interessen reichen allerdings weit über die Musik hinaus. »Wir mögen sie so sehr«, sagt Dirigent Paavo Järvi, neigt dabei den Kopf ein wenig und setzt sein verschmitztes Lächeln auf, »weil sie ein bisschen anders ist«.

Oft schon hat Paavo Järvi mit der Geigerin Hilary Hahn zusammengearbeitet, vor allem in Bremen bei der Deutschen Kammerphilharmonie. »She is a little bit out of the box«, meint Järvi – und trifft mit dieser Aussage einen Nerv. Hilary Hahn ist tatsächlich mehr als eine Geigerin, die technisch makellos über die Saiten streicht. Natürlich besitzt auch ihr Ton die Kraft zum Blühen, dazu Fülle, Tiefe, Saft, auch kann sie ungemein zärtliche Silberklänge aus ihrem Instrument hervorlocken. Ihre Technik beherrscht sie aus dem Effeff – aber all das ist kein Alleinstellungsmerkmal im heutigen internationalen Musikgeschäft. Und doch ist Hilary Hahn, wie Järvi es nennt, »ein bisschen unkonventionell«. Das bekam die Musikwelt zu spüren, als sie ankündigte, ab 2019 in ein Sabbatical zu starten, also noch bevor das lähmende Wörtchen »Covid« in aller Munde war. Hahn hatte ihre Auszeit von langer Hand geplant, sie wollte sich dem Hamsterrad Konzertbetrieb für eine gewisse Zeit entziehen. Dann aber breitete sich die Pandemie immer weiter aus, und aus der individuellen Schöpferpause wurde ein weltweiter Stillstand. Doch in den wenigen Monaten zuvor hat sie bereits auskosten können, was es heißt, als Mutter zweier Kinder ohne festen Terminplan leben zu können. Als die Umstände es noch erlaubten, ging sie in Museen, besuchte Ballett-Aufführungen und anderes mehr. Ein Hauch von Luxus im sonst so eng getakteten Leben einer musikalischen Ausnahmepersönlichkeit.

  • Hilary Hahn © Dana van Leeuwen
    Hilary Hahn © Dana van Leeuwen
  • © OJ Slaughter
    Hilary Hahn spielt Tschaikowsky Violinkonzert
  • Hilary Hahn, Andrès Orozco-Estrada und das hr-Sinfonieorchester
  • arte-Dokumentation: »Hilary Hahn - Evolution of an Artist« (ab 04.11.2023 in der Mediathek)
  • Hilary Hahn © Sonja Werner
    Hilary Hahn © Sonja Werner

Hahns »Anders-Sein« erstreckt sich nicht nur auf ihre Entscheidungen, auch auf ihr Denken, ihren Blick auf die Welt zwischen Gestern und Morgen. So kam sie, noch bevor die Diskussionen um ChatGPT die tägliche Berichterstattung beherrschten, mit einer Wissenschaftlerin in Kontakt, die gleichzeitig Expertin für Künstliche Intelligenz ist. Die Beiden fanden rasch einen Draht zueinander, tauschten sich über drei Stunden lang aus. Das führte schließlich zur Gründung von DeepMusic.Ai. »Unser Ziel ist es, Lücken zwischen den Bereichen zu finden und diese Lücken zu schließen. Wir möchten eine Beziehung zwischen KI und Musik fördern. Kunst ist das, was uns menschlich macht, ihre Kreativität, ihr Ausdruck, ihre Emotionen, und die KI weiß, wie sie diese Dinge in all ihren Anwendungen organisieren kann.« KI ist für Hahn keineswegs Teufelszeug, das der eigenen Kreativität im Wege steht, im Gegenteil, denn »auch KI-Wissenschaftler sind künstlerisch veranlagt«.

Auch den sozialen Medien steht Hahn offen gegenüber. Ihre Initiative #100daysofpractice hat einen Boom ausgelöst. Eigentlich wollte sie nur Erfahrungen zum Üben austauschen. Geigerinnen und Geiger sollten ihre besten, effektivsten, kniffeligsten Übungen digital teilen. »Mir ging es um einen Prozess, nicht um ein Ergebnis.« Kaum war die Idee in der Welt, schossen die Beiträge wie Pilze aus dem Boden. Zwar sind Social-Media-Statistiken nicht gerade bekannt für ihre Verlässlichkeit, doch allein auf Instagram zählt der Hashtag mittlerweile mehr als 800.000 Beiträge. »Amateure wie Profis bilden eine Gemeinschaft, die aus eigenen Antrieben und auf eigene Art und Weise einen Teil ihrer täglichen Routine posten«, schreibt die »New York Times«.

  • Hilary Hahn © OJ Slaughter
    Hilary Hahn © OJ Slaughter
  • Hilary Hahn spielt Mendelssohn Violinkonzert
  • arte-Dokumentation: »Hilary Hahn - Evolution of an Artist« (ab 04.11.2023 in der Mediathek)
  • Hilary Hahn © Sonja Werner
    Hilary Hahn © Sonja Werner
  • Andrés Orozco-Estrada © Martin Sigmund
    Andrés Orozco-Estrada © Martin Sigmund

Rückblickend erscheint Hilary Hahns Laufbahn wie an einer Schnur gezogen: erste Geigenversuche kurz vor dem vierten Geburtstag, systematischer Unterricht ab fünf, erstes Solokonzert mit sechs, als Zehnjährige Unterricht bei Jascha Brodsky, dem letzten Schüler des legendären Eugène Ysaÿe. Mit 16 beginnt sie am renommierten Curtis Institute of Music ihr reguläres Violinstudium. Doch anstatt im Eiltempo ihren Abschluss anzustreben, studiert sie zusätzlich noch Sprachen, Literatur und kreatives Schreiben. Hilary Hahns Ideen sind bis heute nie stromlinienförmig. So initiierte sie ein Projekt und fragte bei mehreren Komponistinnen und Komponisten weltweit an, ob sie nicht Lust hätten, kurze Zugaben-Stücke für sie zu komponieren. Neue Musik als Encore nach dem offiziellen Konzertteil – wann gibt es das schon? Hahn besitzt eben ein Faible für zeitgenössische Musik, mehrere Uraufführungen hat sie gespielt. 2016 beispielsweise schrieb Einojuhani Rautavaara eigens für sie zwei Serenaden für Geige und Orchester, doch der Komponist starb noch vor der Uraufführung. »Es war das erste Mal, dass ich eine posthume Premiere hatte«, erinnert sich Hahn. Zum Glück hatte der Dirigent Mikko Franck einen engen Draht zu Rautavaara. »Sein Wissen hat mir geholfen, er war einfach sehr nah dran. Für mich war es sehr ergreifend, auf der Bühne zu stehen und sich all dessen bewusst zu sein.«

Wenn Hilary Hahn nun nach Dortmund kommt und dort eine ganze Woche lang ihr eigenes Festival auf die Bühne bringt, ist das nicht nur fürs Publikum, sondern auch für sie selbst ein Glücksfall. Eine Woche lang nicht reisen müssen, ein Programm im Vorfeld kuratieren, das sehr viele Freiheiten lässt und – mehr noch – das erlaubt, all die Facetten ihres Musikerlebens präsentieren zu können. Natürlich ist da zunächst die Solistin prominenter romantischer Violinkonzerte, aber da ist auch ihre Vorliebe für die Orgel – und so kommt es zum Gipfeltreffen mit Iveta Apkalna. Schließlich erleben wir sie als Lehrerin in einer Meisterklasse, und wie um ihre Experimentierfreude zu untermauern, präsentiert Hahn den Cellisten Seth Parker Woods, bei dessen Abend mit Live-Elektronik sie als Special Guest auftreten wird. Bei Hilary Hahn ist eben, um mit Paavo Järvi zu sprechen, alles »ein bisschen anders« – und das erklärt, warum sie eine so große Bereicherung für unser heutiges Musikleben ist.