Konzerthaus Dortmund

Ein Bild ohne Rahmen

Pianistin Martha Argerich lässt sich gerne alle Möglichkeiten offen. Für Lahav Shani hat sie sich jedoch auf gleich zwei Konzerte im Konzerthaus Dortmund festgelegt, als Solistin mit dem Orchestre de Paris unter seiner Leitung und im Klavierabend mit dem jungen Israeli an zwei Flügeln.

Wem als Künstler die Gnade widerfährt, ein hohes Alter zu erreichen, der muss sich noch zu Lebzeiten in den Medien mit Etiketten aller Art herumschlagen. Besonders, wenn ein runder Geburtstag ansteht. So geschehen mit Marta Argerich, die im Jahr 2021 achtzig Jahre alt wurde. »Grand Dame« des Klaviers nennt das Feuilleton sie, »Hohepriesterin« und »Legende«. All das trifft irgendwie zu, und doch: Keine Bezeichnung will so richtig zu ihr passen. Immer noch greift sie mit der Kraft eines Kerls in die Tasten, und sie ist absolut nicht der Typ für musikalische Glaubensbekenntnisse. Außerdem hasst sie es, pompös zelebriert zu werden. Kaum ist die letzte Klaviertaste gedrückt, schon ist sie verschwunden. Hauptsache weg von der Bühne, von der Bestie Publikum, die sie erstaunlicherweise bis heute auf Händen trägt. »Martha hat alles dafür getan, ihre Karriere zu ruinieren, aber es ist ihr nie gelungen«, hat einst ein Agent über sie gesagt.

Bereits als Kind in Buenos Aires fühlte sie sich bei jedem Auftritt wie ein »Insekt unter der Lampe«. Dem Druck ihrer überehrgeizigen Mutter suchte sie zu entfliehen, indem sie sich nasses Papier in die Schuhe schob in der Hoffnung auf eine schwere Erkältung. Als Siebzehnjährige in Florenz schnitt sie sich absichtlich mit dem Messer in den Finger. Einen Termin mit dem seinerzeit mächtigen EMI-Plattenboss Walter Legge ließ sie platzen, einen Vertrag mit der Deutschen Grammophon lehnte sie zunächst ab. Bald machte der Spitzname »Madame No!« die Runde, weil sie mehr Konzerte absagte als gab. Veranstalter trieb sie mit der Weigerung, Verträge vorab zu unterschreiben, in den Wahnsinn. Sogar ihren Lehrer, Friedrich Gulda, selbst ein exzentrischer Provokateur, brachte sie in Rage. Er beschimpfte sie als »neurotische, willensschwache, verwöhnte Virtuosin«, die »ihr Potenzial mit ihrer chaotischen Existenz« verschleudere. Sie aber nennt ihn heute »eine der wichtigsten Personen in meinem Leben«.

Martha Argerich © Fred Münzmaier nach Fotos von Susesch Bayat

Natürlich verzieh man immer wieder der »Tigressa« mit den »fliegenden Händen« und dem »Teufel im Leib« (Joachim Kaiser). Bezeichnungen, die zweifellos ihrer pianistischen Brillanz entsprachen, die aber auch der Fantasie derer entsprangen, die in der schwarzhaarigen Musikerin mit dem Mona-Lisa-Lächeln und dem turbulenten Liebesleben eine Femme Fatale witterten. »Ich bin sehr kurzsichtig und kneife die Augen zusammen, um Leute zu erkennen. Das gibt mir vielleicht diesen merkwürdigen Blick«, sagte Argerich mit trockenem Humor im Interview in Brescia am Rande ihres Klavierfestivals. Ein Gespräch, das zum ersehnten Wendepunkt in einem absurden Theaterstück wurde, das man auch »Warten auf Martha« nennen könnte. Den ganzen Nachmittag hatte die Presse im Foyer eines prächtigen Palais-Hotels in brütender Hitze auf sie gewartet. Immer wieder sah man eine dunkle Gestalt durch Marmorsäulen des oberen Stockwerkes huschen. Als alle nicht mehr mit ihr rechneten, da erschien sie plötzlich, kurz vor Mitternacht im Restaurant. Wer sie sich jetzt nicht »griff«, hatte verloren. Im Vorteil waren die, die Spanisch sprachen. Immerhin: 18 kostbare Minuten Gespräch waren das Resultat.

»Martha ist ein sehr schönes Bild, nur ohne Rahmen«, sagt Daniel Barenboim liebevoll über sie. Mit ihr zu musizieren sei »jedes Mal so, als wäre es das erste Mal… aufregend.« Die beiden kennen sich bereits seit Kindesbeinen. Und auch mit Barenboims Schüler, dem neuen Dortmunder Exklusivkünstler Lahav Shani, ist Argerich bestens bekannt. 2020 nahmen sie das Klavierkonzert von Maurice Ravel im Heichal Hatarbut, der Konzerthalle in Tel Aviv auf. Mit Prokofiews drittem Klavierkonzert waren sie in Wien zu hören, und nun kommen sie mit Beethovens zweitem Klavierkonzert nach Dortmund. Im April kehren die beiden sogar als Klavierduo ins Konzerthaus zurück, denn der junge Dirigent und Pianist zählt mittlerweile zu Argerichs engem Freundeskreis, mit dem sie sich auf der Bühne wohl, sicher und unangreifbar fühlt. »Ich bin alt, aber noch immer unreif«, sagte Argerich unlängst der dpa, etwas kokett, etwas verlegen, so als wolle sie sich für ihr kompliziertes Wesen entschuldigen, das auch ihre Töchter verunsicherte. »Wie ein kleines Mädchen«, erzählt Tochter Stéphanie Argerich in ihrem Film »Bloody daughter«, hätten sie die Mutter getröstet und aufgemuntert. Besonders vor dem Auftritt, wenn die Panik bei ihr wieder um sich griff. Doch »dann siehst du dieses Biest da auf der Bühne – und denkst, hm, okay. Du bist vollkommen erschöpft, weil sie all deine Energie und Aufmerksamkeit genommen hat, und dann sitzt sie da am Flügel, stark, präsent, und bringt den Saal zum Einstürzen«. Ein Widerspruch, der jetzt nicht mehr aufgelöst werden muss. Schließlich liebt Martha Argerich es, nicht definiert zu werden.

    • Sa 17.12.2022
    • 20.00 Uhr

    Orchesterkonzert

    Lahav Shani & Orchestre de Paris

    Exklusivkünstler

    Beethoven Klavierkonzert und Tschaikowsky Sinfonie Nr. 5

    • So 23.04.2023
    • 18.00 Uhr

    Klavierabend

    Lahav Shani & Martha Argerich

    Exklusivkünstler

    Ravel »La valse« und Prokofiew »Symphonie classique« an zwei Flügeln