Konzerthaus Dortmund

Ohne Musik geht es nicht

Wer einen schwarzen Gürtel trägt, der hat etwas geleistet, wurde geprüft und als Meister anerkannt. Dirigent Andris Nelsons hat sich den schwarzen Gürtel verdient – in der Welt der Musik vielleicht im übertragenen Sinne und den um die Hüfte ganz real im Taekwondo.

Andris Nelsons hat ein Faible für Taekwondo und Karate. In seiner Jugend schon hat er diese Sportarten ausgeübt, bei dem nicht der Sieg das Ziel ist, sondern vollkommene Körperbeherrschung, Konzentration und Ausgeglichenheit. Den Sport generell hat Nelsons in der Coronazeit wieder für sich entdeckt. »Die Essenz von Leben und Kunst liegt natürlich in der menschlichen Seele«, meint er, »aber wir sind auf unseren Köper angewiesen«. Leider war Corona nicht so leicht niederzuringen wie mancher Karate-Gegner. In Boston hatte die Epidemie ihren letzten Auftritt in Form der Omikron-Variante, die Musiker wie Publikum in den Krankenstand geschickt hat. »Gottlob kommen die Menschen auch im Schatten der Pandemie, mit Impfausweis und Maske«, stellt Nelsons damals fest.

Heute scheint das Virus Äonen weit entfernt zu sein. Und so kommt Andris Nelsons umso freudiger mit seinem Boston Symphony Orchestra (BSO) ins Konzerthaus, und das zum ersten Mal. Das BSO hat während der schweren Zeit zum Glück seine Form und Technik bewahrt. »Vor allem auch die notwendige Leidenschaft zu spielen«, betont Nelsons. In Dortmund ist er dem Publikum schon lange als Exklusivkünstler wohlbekannt. Unter anderem auch mit seinem Leipziger Gewandhausorchester ist er hier gewesen, das er als zweiten Klangkörper neben dem BSO leitet.

Mit seinen Orchestern will Andris Nelsons Traditionen wie die Pflege zeitgenössischer Musik fortsetzen. Seit ein paar Jahren hat er Werke von Carlos Simon im Programm, dessen »Four Black American Dances« als Deutsche Erstaufführung das Konzert in Dortmund eröffnen. Diese Tanzmusik umfasst ekstatische Rituale, Walzer, Stepptanz und Gospel. Und wir bleiben weiter in den USA, wenn Jean-Yves Thibaudet, der Fachmann für Eleganz und Stil, das berühmte Concerto in F spielt. Gershwins Werk ist ein jazziges Porträt der Metropole New York: quirlig, melancholisch und typisch für den »American way of life«.

Andris Nelsons pflegt auch das russische Repertoire ausgiebig. Es hat den 1978 im damals noch sowjetischen Lettland geborenen Nelsons geprägt und auch im Studium in St. Petersburg begleitet. Auch das BSO ist mit der Musik von Sergej Prokofiew vertraut, seit Serge Koussevitzky, damals Chefdirigent in Boston, dessen Musik intensiv förderte. 1930 fand sogar die Uraufführung von Prokofiews Vierter Sinfonie in Boston statt. Die Fünfte, entstanden 1944, ist in den USA jedoch fraglos der viel größere Erfolg gewesen. Sie bildet so etwas wie eine Begleitmusik zu den dramatischen Ereignissen der letzten Kriegstage in Russland. Prokofiew dirigierte 1945 die Uraufführung selbst und begann erst, als in Moskau die Artillerie schwieg. Der üppig dimensionierte Klangapparat des Werks könnte zum Lärmen verleiten. Doch Andris Nelsons schwelgt sicher auch hier im Melodischen und legt Wert auf Details. Mit seinem Boston Symphony Orchestra kann er beides tun: »Es besitzt eine Seriosität, eine Tiefe, die über Fulminanz weit hinausgeht. Da existiert eine essentielle philosophische Tiefe, die das Orchester auch vermitteln kann.« Nelsons spricht hier zwar über seine Erfahrungen mit Schostakowitsch beim BSO, aber auch für Prokofiew sind diese Worte uneingeschränkt stimmig.

Die Musikerinnen und Musiker loben ihren Chefdirigenten in höchsten Tönen. Zum Beispiel Solotrompeter Thomas Rolfs: »Die wirklich großen Dirigenten haben ihren eigenen Stempel, den sie einer Aufführung aufdrücken. Andris kann dem gesamten Orchester eine unfassbare Fülle von Klang entlocken.« Zu dieser Klangqualität hat sicher auch ein einzigartiges Projekt beigetragen. »Wir haben schon vor Jahren mit einem Austausch­pro­gramm begonnen«, so Nelsons. »Einzelne Musi­ke­rinnen und Musi­ker wech­selten zwischen Leipzig und Boston die Plätze und haben die jeweils andere Orches­ter­kultur kennen­lernen können.« Was den »Sound« betrifft, werden dabei Unterschiede deutlich, aber auch Gemeinsamkeiten. »Was Leipzig und Boston verbindet, ist sicher einmal das Bewusst­sein einer kollek­tiven, tradi­tio­nellen Klang­qua­lität, die erhalten werden muss. Zugleich ist ein indi­vi­du­eller, persön­li­cher Zugang erwünscht, der ein flexi­bles Geben und Nehmen erst wirk­lich ermög­licht.« Und wie klingen nun die Bostoner? »Manchmal dunkler als man denkt – aber zugleich sind sie sehr trans­pa­rent.« Für Nelsons bedeutet das BSO endlich wieder pures Musizierglück. Und wenn er aus allen Krisen etwas mitgenommen hat, dann vor allem eines: »Ohne Musik geht es nicht.«

    • Mo 04.09.2023
    • 20.00 Uhr

    Orchesterkonzert

    Andris Nelsons & Boston Symphony Orchestra

    Jean-Yves Thibaudet spielt Gershwins Klavierkonzert