Der estnische Komponist Arvo Pärt ist ein Meister der Reduktion, der minimalistischen Schlichtheit. Und doch schafft er damit oftmals archaisch anmutende Klang- und Glaubensräume, die eine ungemeine Anziehungskraft besitzen. Das Konzerthaus Dortmund widmet dieser einzigartigen Stimme der Gegenwartsmusik eine musikalische Zeitinsel, bei der große Pärt-Interpreten wie der Dirigent Paavo Järvi und der Geiger Gidon Kremer zu Gast sind.
Als Gidon Kremer 1977 ein neues Stück in die Hände bekam, ahnte er noch nicht, dass der Titel »Tabula rasa« Programm sein würde. »Wo ist die Musik? «, fragte er nach erstem Durchblättern der Partitur erstaunt den Komponisten, Arvo Pärt. Immerhin hatte er die Notenseiten buchstäblich ausgedünnt. Bereits nach dem ersten Ton gab es eine riesige Pause. Und was darauf bis ins Finale folgte, das im dreifachen Pianissimo und dann in der völligen Stille versiegt, erwies sich ebenfalls als radikale musikalische Entschlackungskur. Minimale Rhythmus-Verschiebungen, sanft organisierte Dreiklänge und beruhigende Farbkontraste – all das macht den Geist dieses Doppelkonzerts für zwei Violinen, Streichorchester und präpariertes Klavier aus. Doch so verwundert sich der lettische Stargeiger Kremer zunächst von dieser introvertierten Musik zeigte, er spielte das Werk schon bald nicht nur laut Pärt »sehr gut« auf Schallplatte ein. Die beim Münchner Label ECM veröffentlichte Aufnahme machte auf einen Schlag aus dem bislang eher als Geheimtipp gehandelten Komponisten eine Berühmtheit. Und längst gehört »Tabula rasa« zu den Ikonen einer musikalischen Moderne, die im Gegensatz zu den oftmals sehr experimentierfreudigen und intellektuellen Neue-Musik-Moden bis heute ein breites Publikum in den Bann zieht.
Gidon Kremer und »Tabula rasa« sind nun auch bei der Zeitinsel dieser Saison zu erleben, mit der das Konzerthaus Dortmund den großen estnischen Komponisten Arvo Pärt feiert. Sechs Konzerte und ein Salon-Gespräch umfasst dieses Klangporträt. Und neben Kremer widmen sich herausragende Pärt-Interpreten wie Paavo Järvi und sein Estonian Festival Orchestra sowie der von Tõnu Kaljuste geleitete Estnische Philharmonische Kammerchor dem Lebenswerk des inzwischen 88-jährigen Komponisten. Seine Orchester-, Kammermusik- und Chorwerke treten dabei immer in den Dialog mit Komponisten, die sein Klangdenken maßgeblich geprägt haben. Dazu gehört natürlich sein Kompositionslehrer Heino Eller, bei dem er am Konservatorium in Tallinn studiert hat. Pärts Bewunderung für Bach hat sich schon in den frühen 1960er-Jahren als äußerst fruchtbar erwiesen – wie etwa 1964 in der »Collage zu B-A-C-H« für Kammerorchester, in der auch Zitate aus den Cembalo-Suiten auftauchen. Und selbstverständlich dürfen all die Rückbezüge auf den gregorianischen Choral und damit das Fundament jener römisch-katholischen Musik nicht fehlen, die Pärts zweites musikalisches Leben entscheidend beeinflusst hat.
Tatsächlich lässt sich Pärts Biografie und damit sein schöpferischer Weg in zwei große Kapitel einteilen. Die 1960er-Jahre waren geprägt von der Beschäftigung mit der Musikgeschichte, aber auch mit avantgardistischen Formen. Und beides sollte Pärt in seiner Ersten Sinfonie miteinander verschmelzen, mit der er 1963 sein Studium bei Heino Eller abschloss. Doch schon bald eckte Pärt mit diesem Klangdenken bei den sowjetischen Behörden an. Aufführungsverbote waren die Folge. Und 1968 kam es endgültig zum Wendepunkt. Nachdem sein Stück »Credo« einen veritablen Skandal ausgelöst hatte, zog er sich völlig zurück. Bis 1976 verstummte seine kompositorische Stimme nahezu komplett. Und gerade in dieser Phase der Neuorientierung fiel dem getauften Lutheraner ein Notenbuch mit gregorianischen Gesängen in die Hände, das er in einer Kirche in Tallinn entdeckt hatte. »Ich wollte etwas finden, das lebendig, einfach war, eine absolute Melodie, eine nackte Stimme, die die Quelle alles anderen ist«, so Arvo Pärt in einem seiner seltenen Interviews. »All das fand ich in diesem Notenbuch. Ich begann, diese Melodien zu spielen und zu singen. Es war, als bekäme ich eine Bluttransfusion. Ich hatte es geschafft, eine Brücke zwischen gestern und heute zu bauen, ein Gestern, das mehrere Jahrhunderte alt war. Der gregorianische Gesang hat mich eins gelehrt: Hinter der Kunst, nur zwei oder drei Noten zu verbinden, steht ein kosmisches Geheimnis. Das haben die typischen Zwölftonkomponisten nicht verstanden.«
Die Erkenntnis, dass man mit nur wenigen Noten Botschaften von großer Kraft und Schönheit schaffen kann, spiegelt sich auch in den vielen Chorwerken wider, die jetzt beim Pärt-Festival erklingen. Dazu gehört etwa das »Veni creator«, das 2006 für die Deutsche Bischofskonferenz entstanden ist. Pärts Faszination von der Musik der russisch-orthodoxen Kirche drückt sich in den Ausschnitten des »Kanon pokajanen« aus, den er 1998 zum 750-jährigen Jubiläum des Kölner Doms geschrieben hat. Und welche neuen Horizonte sich für Pärt gleichfalls auf dem Gebiet der Instrumentalmusik auftaten, unterstreicht das gerade einmal 14 Takte lange Klavierstück »Für Alina«, das einem geistlichen Lied ohne Worte ähnelt.
Trotz seiner Hinwendung zum Religiösen und Spirituellen blieb Arvo Pärt in der Sowjetunion zwar von lebensbedrohlichen Gängeleien und Repressionen, wie sie noch Dmitri Schostakowitsch aushalten musste, verschont. Trotzdem sollte Pärt 1980 seiner Heimat besser den Rücken kehren, um sich erst in Wien und dann in Berlin niederzulassen. Seit 2008 lebt der mit Preisen und Auszeichnungen regelrecht überhäufte Komponist wieder in Estland. 1990 wurde sogar ein Asteroid nach ihm benannt. Und erst jüngst, im Mai 2023, überreichte man ihm mit dem »Polar Music Prize« den inoffiziellen Nobelpreis für Musik.
Nun also widmet ihm das Konzerthaus eine Zeitinsel, bei der im Abschlusskonzert Gidon Kremer mit »Fratres« ein weiteres Kult-Stück von Pärt spielt, das er einst mit Keith Jarrett am Klavier ebenfalls für ECM aufgenommen hatte. Und auch in dieser kantablen Meditation hat Pärt einmal mehr einen seiner wichtigsten musikalischen Glaubenssätze verewigt: »Ich habe entdeckt, dass es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird. Dieser eine Ton, die Stille oder das Schweigen beruhigen mich.«