Konzerthaus Dortmund

Bilder in der Dunkelheit

Gerlinde Sämann ist eine außergewöhnliche Künstlerin. Ihr feinsinniger Gesang berührt tief – kein Wunder, dass sie schon mit einigen der renommiertesten Ensembles und Chören auf der Bühne stand. Es ist gar nicht so einfach, sie einem bestimmten Genre zuzuordnen, denn damit würde man der experimentierfreudigen Künstlerin nicht gerecht. Im Interview spricht sie über das ungewöhnliche Konzertformat, das sie im Konzerthaus Dortmund plant, und über die Herausforderungen, denen sie im Laufe ihrer Karriere begegnet ist – denn seit ihrer Jugend ist die Sängerin erblindet. 

Frau Sämann, im Mai geben Sie ein besonderes Konzert, das ganz im Dunkeln stattfindet. Damit fallen viele der Rituale weg, die sonst zu einem Konzertbesuch dazugehören. Zum Beispiel das Blättern im Programmheft oder das Beobachten der Sitznachbarn. Was ändert sich, wenn das Publikum die Musik nur hören kann? 

Wenn wir ins Konzert gehen, dann nehmen wir im Bruchteil weniger Sekunden ja erst mal sehr viel wahr. Zum Beispiel wer noch so da ist oder wie die anderen angezogen sind. Das ist eine Art äußere Orientierung, bei der automatisch ganz viel verglichen wird. Bei unserem Dunkelkonzert kommen die Leute rein und dürfen sich, wenn sie das möchten, auf die Bühne legen. Das Saallicht wird ausgeschaltet sein und optional werden noch Augenmasken ausgeteilt. Das Publikum wird also nicht sehen, wer da kommt. Ich möchte nicht zu viel verraten, denn das ist eine Überraschung. 

Also stelle ich meine nächste Frage, was das Publikum an dem Abend genau erwartet, lieber nicht?

So viel kann ich vielleicht sagen: Es ist nicht so, dass da einfach nur ein Stück nach dem anderen kommt und die Menschen sich selbst überlassen sind. Eine Reise beschreibt es vielleicht am besten. Und jeder ist mehr für sich, in seinem Empfinden. Wenn wir die Augen geschlossen halten, dann dehnen sich alle Sinne stärker aus, auch das Hören und der Spürsinn. Das werden wir mit einbeziehen in die Performance. Es ist ja tatsächlich so: Wenn wir die Augen schließen, dann produziert unser Gehirn sofort Bilder. Und darauf zielt das Konzert ganz stark ab. 

Was wünschen Sie sich denn, das die Besucherinnen und Besucher am Ende mit nach Hause nehmen?

Am schönsten wäre danach ein Austausch dazu, was da gerade passiert ist. Vermutlich muss man sich nach dem Konzert erst mal orientieren und vielleicht auch im Programm nachschauen, was man da gerade gehört hat. Was ich mir wünschen würde ist, dass die Besucher wirklich das Gefühl haben, sie haben etwas erlebt, und zwar mit sich.

Wie haben Sie denn die Stücke des Abends ausgesucht?

Da habe ich mich auch daran orientiert, was für Vincent auswendig und mit geschlossenen Augen wirklich machbar ist (Anm. d. Red.: Vincent Kibildis begleitet Gerlinde Sämann an der Harfe). Denn das ist wirklich eine große Herausforderung. Vincent ist grandios und auch die einzige Person, die ich für so etwas fragen würde. Vincent ist sehr kreativ und kommt aus der Folk-Szene – hat also auch schon häufig ohne Noten gespielt. 

Auf ihrer Website haben Sie eine eigene Rubrik, in der Sie Fragen dazu, wie es für Sie als blinde Sängerin ist, direkt aufgreifen und klären. Zum Beispiel wie die Zusammenarbeit mit Dirigentinnen und Dirigenten funktioniert. Dort steht, dass es für Sie keinen Unterschied macht, weil Sie sie wahrnehmen können. 

Es gibt Dirigenten, da kann ich auch aus weiter Entfernung spüren, was von ihm ausgeht und was gemeint ist. Lustigerweise fällt es mir manchmal bei Dirigenten schwer, die sehr Show-mäßig und mit einstudierten Posen dirigieren. Das sieht natürlich cool aus, wenn sie so tanzen. Aber wenn sie sehr weit weg stehen, mit einem riesen Orchester dazwischen, und das Dirigat so wenig mit dem inneren Fühlen verbunden ist, da tu ich mich schwer. Mit anderen geht das aber tipptopp. 

In einem Interview mit »Rondo« sprachen Sie darüber, wie das Blindsein Ihren Lebensweg beeinflusst hat und dass Sie rückblickend auch an Grenzen gestoßen sind, die andere vielleicht nicht so erlebt haben.

Oh ja, das stimmt. Das Singen selbst ist davon eigentlich vollkommen unberührt. Was ich über die vielen Jahre mühsam fand, vielleicht am mühsamsten, ist das viele Reisen. Dazu gehört auch die ständige Neuorientierung in einer fremden Umgebung und in neuen Gruppen, wo dir die Leute erst mal signalisieren: »Ich weiß gar nicht, wie ich mit dir umgehen kann.« Wenn das ständig passiert, denkst du irgendwann: »Irgendwas stimmt mit mir nicht«. Und das nicht persönlich zu nehmen, braucht sehr viel Gegensteuerung. Ich bin ein totaler Schwarm-Mensch, ich bin wahnsinnig gern dabei und flattere einfach so mit. Aber sich ständig neu einzustellen auf neue Orte und Gruppen, kostet Kraft. Ich habe oft erlebt, dass wir von der Bühne herunterkamen und dann waren – zack – alle weg. Dann steht man da in Abendgarderobe. Das ist schon arg, auch wenn das natürlich niemand aus Böswilligkeit macht. 

Man braucht da vermutlich auch ein sehr starkes Selbstvertrauen.

Das hatte ich nicht so früh. Das ist etwas, das jetzt wächst, wo ich weniger mache. Ich habe gemerkt, wie schwierig es ist, dieses Selbstvertrauen zu behalten an Orten, wo ich aufgeregter bin wegen Fragen wie »Finde ich meinen Stuhl?« oder »Wie komme ich durch das Orchester, wer hilft mir?« als wegen des Singens selber. Ich bin immer ohne Assistenz gereist. Jetzt reise ich mit einer Person meines Vertrauens und kann mich eleganter bewegen. Komischerweise ist für mich eines der wichtigsten Dinge die Eleganz. 

    • So 12.05.2024
    • 18.00 Uhr

    Lieder- / Arienabend

    Konzert im Dunkeln

    Die Sinne schärfen mit der blinden Sopranistin Gerlinde Sämann