Ich will ein Suchender bleiben

Mit 95 Jahren ist Herbert Blomstedt der Grandseigneur unter den Top-Dirigenten. Am 25. Mai ist er im Konzerthaus mit dem COE zu erleben. Heiko Schmitz sprach mit dem Maestro über seine Arbeit, Sinfonien und seine nie versiegende Neugier.

  • Herbert Blomstedt © Martin U. K. Lengemann
    Herbert Blomstedt © Martin U. K. Lengemann
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  • © Julia Wesely
    Das Chamber Orchestra of Europe spielt Mendelssohns Sinfonie Nr. 3
  • Herbert Blomstedt © Martin U. K. Lengemann
    Herbert Blomstedt © Martin U. K. Lengemann

Herr Blomstedt, die Vorfreude auf Ihr Gastspiel am 25. Mai mit dem Chamber Orchestra of Europe ist groß. Was verbindet und verbinden Sie mit Dortmund?
Ich bin schon einige Male in Dortmund aufgetreten. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir natürlich, dass ich, es muss 1962 gewesen sein, mein erstes Konzert in Deutschland in Dortmund dirigiert habe. Ich war damals Chefdirigent beim Philharmonischen Orchester in Oslo und spielte zum ersten Mal in Deutschland.  

Sie dirigieren in Dortmund das Chamber Orchestra of Europe, das Sie in der Vergangenheit sehr gelobt haben. Warum arbeiten Sie so gerne mit diesem Ensemble zusammen? 
Richtig, ich arbeite nach längerer Zeit erstmals wieder mit diesem Ensemble zusammen. Ich kenne einige Musiker aus dem Orchester. Es ist ein erlesener Klangkörper aus hervorragenden Musikerinnen und Musikern, die ja eigentlich andere Jobs haben, aber sich zu bestimmten Zeiten zusammenfinden, um auf höchstem Niveau zu musizieren. Das gefällt mir.  

Anderen Orchestern sind Sie seit langem eng verbunden, etwa dem NDR Elbphilharmonie Orchester. Worauf legen Sie in der Zusammenarbeit mit Klangkörpern besonderen Wert?
Ich merke sofort und spüre genau, wie es um die Stimmung und den musikalischen Zusammenhalt in einem Orchester bestimmt ist. Man bekommt schnell mit, ob die Musikerinnen und Musiker aufeinander hören. Es gibt individuell sehr gut besetzte Orchester, in denen diese Qualität weniger ausgeprägt ist als in anderen. Es reicht nicht, den jeweils eigenen Part hervorragend zu spielen. Man muss aufeinander eingehen. Im Chamber Orchestra sind sie das gewohnt.

Wie beeinflussen Sie als Dirigent die Qualität des Zusammenspiels?
Man muss vor allem die Materie gut kennen. Ich muss die Partitur besser kennen als alle anderen. Ich trete nie als Besserwisser auf, aber ich muss das Spiel leiten, damit jeder zur Geltung kommt und wir gemeinsam das für alle bestmögliche Ergebnis erzielen. Dazu braucht jeder individuelle Qualität, aber auch ein Gefühl für das Ganze. Sie müssen einen gemeinsamen Nenner finden, das Ergebnis hängt von den Individuen und dem Kollektiv ab.

Herbert Blomstedt © picture alliance / DN

Auf dem Programm am 25. Mai stehen eine Sinfonie von Berwald und Mendelssohn Bartholdys »Schottische«, also ein für viele eher unbekanntes und ein populäres Stück. Wie ist es zu dieser Kombination gekommen?  
Wir haben das Programm lange diskutiert. Das Orchester hat ein großes Repertoire und Wünsche, sie wollten etwas Besonderes machen. Da zeigt sich die Neugier, eine der besten Eigenschaften von guten Musikerinnen und Musikern. Berwald wird die Neugier befriedigen; er ist für viele unbekannt und hat mit über 40 Jahren in kurzer Zeit vier Sinfonien geschrieben. Er war als virtuoser Geiger schon als junger Mann Orchestermusiker in Schwedens damals einzigem Profiensemble in Stockholm. Daher kennt er die Instrumente im Orchester gut und hat zum Beispiel für die Posaunen besondere Partien geschrieben, die hier wichtiger sind als etwa die Hörner. Leider blieb ihm der ganz große Erfolg zu Lebzeiten verwehrt – er wurde eigentlich nur in Wien gefeiert.  

Sie sind bekannt für eine sehr präzise, analytische Herangehensweise an Werke und genaues Studium der Partituren. Wie würden Sie Ihren Zugang zur Musik beschreiben?  
Ich suche nach der Eigenart, dem Besonderen jedes Stückes. Der Komponist verleiht dem Werk einen Grundzug, aber bei jeder Aufführung gibt es Neues zu entdecken – dazu braucht es keine neue Musik. Immer das Gleiche zu tun ist nicht interessant. Die großen Meister sind gute Vorbilder, aber Berwald zum Beispiel hat Mendelssohn und Schumann nicht imitiert, sondern etwas völlig Neues entwickelt. Ein Musiker, der nur demonstriert, was er schon kann, wird kein bleibendes Interesse hervorrufen – er kann wie ein Straßenmusiker oder Magier höchstens ein unerfahrenes Publikum beeindrucken. Tatsächlich muss man alles können, aber so tun, als sei man ein Anfänger. Ich will ein Suchender bleiben, der immer wieder Neues entdeckt und damit Musikerinnen und Musiker stimuliert.

Also bezieht sich das Neue, das es zu entdecken gilt, auch auf eigentlich bekanntes Repertoire?
Ja, unbedingt. Schauen Sie auf Beethoven: Die Fünfte Sinfonie ist besonders, das stimmt. Dramatisch, revolutionär. Sie stellt die Vierte in den Schatten, obwohl diese in einigen Hinsichten das bessere Stück ist. Warum kennt jeder die Siebte, aber nicht die Achte Sinfonie? Beethoven hat gesagt: Weil die Achte besser ist. In den Zwischenräumen des eigentlich Bekannten gibt es viel zu entdecken.

Haben Sie Lieblingsstücke? 
Bei meiner Herangehensweise ist immer das Stück, mit dem ich mich gerade beschäftige, mein Lieblingsstück, sonst würde ich es nicht spielen. Es gibt aber durchaus Favoriten: Bei Bruckners Sinfonie Nr. 3 etwa gibt es drei Fassungen, von denen die erste und längste die beste ist. Leider wird sie nie gespielt. Die Kollegen sind wohl zu faul (lacht).

Gibt es Werke, die noch nicht auf Ihrem Spielplan standen, die Sie aber noch dirigieren wollen?
Ja, es gibt zum Beispiel sechs späte Messen von Joseph Haydn, seine reifsten Werke. Die »Harmoniemesse« habe ich noch nicht dirigiert. Vielleicht muss ich 100 Jahre alt werden, um es zu schaffen…

Apropos Alter: Was reizt Sie nach über 60 intensiven Jahren, weiter zu dirigieren? 
Meine Neugier. Die darf niemals verschwinden. Es darf nie der Moment kommen, an dem ich das Gefühl habe: Ich kann es, jetzt zeige ich es allen. Du musst demütig bleiben. Meine wichtigste Energiequelle ist das stimulierende Gefühl, sich zusammen mit exzellenten Musikerinnen und Musikern auf das Niveau von so begabten Menschen wie den großen Komponisten zu begeben.

Wie verschaffen Sie sich Atempausen im Reise- und Konzertbetrieb? 
Pausen sind wichtig, ohne geht es nicht. Dirigieren ist anspruchsvoll und ermüdend. Aber es ist gefährlich, zu sagen: Jetzt entspanne ich mich und genieße nur noch. Du musst wach bleiben und dem Orchester immer wieder das Gefühl geben, mit ihm etwas Neues, Einzigartiges zu entdecken. Wir alle wollen etwas Besonderes machen. Dann sind wir glücklich.

Das Interview führte Dr. Heiko Schmitz.

    • Do 25.05.2023
    • 20.00 Uhr

    Orchesterkonzert

    Herbert Blomstedt & Chamber Orchestra of Europe

    Mendelssohn »Schottische« Sinfonie