»Führender Kopf der neuen Welle vielseitig begabter Musiker« nannte bereits 2013 das wöchentlich erscheinende französische Kultur- und Fernsehmagazin »Télérama« den Dirigenten Raphaël Pichon. Heute, zehn Jahre später, ist er immer noch »hemmungslos in die Materie verliebt« (»Süddeutsche Zeitung«) und hat sich als Leiter seines historisch informierten Ensembles zu einem der aufregendsten Dirigenten entwickelt. Im Konzerthaus Dortmund erkundet er mit seinem Ensemble Pygmalion Mozarts Requiem auf einzigartige Weise und verwebt die berühmte Totenmesse mit unbekannten Vokalwerken des Komponisten.
Kaum ein Werk ist von so vielen romantischen Legenden umsponnen wie Mozarts Requiem. Ein geheimnisvoller Bote soll 1791 vor Mozarts Haustür gestanden und es bestellt haben. Obendrein starb Mozart über dem Werk. Inwiefern hat Sie dies alles als Interpret beeinflusst?
Ich entdeckte als Teenager das Requiem und die Legenden schufen eine bestimmte Stimmung um das Werk. Auch ich liebe Geschichten. Erst später merkte ich, dass da viel hineinfantasiert wurde. Doch unsere Geschichte in Dortmund ist eine andere.
Das macht neugierig…
Für mich ist dieses Werk mit Erinnerungen verbunden, Mozarts Erinnerungen. Ich glaube, dass Mozart sein Requiem immer im Kopf hatte, bereits seit seiner Kindheit und Jugend. Und dass sein ganzes Werk mit dem Requiem auch biografisch verbunden ist. Deshalb wollte ich mich nicht unbedingt nur auf Mozarts Torso konzentrieren bzw. es komplettieren. Mir ging es darum, etliche Sätze des Requiems mit den Wurzeln Mozarts, also Musikstücken aus seiner Teenagerzeit zu verbinden und sie in Dialog bzw. wie einen Spiegel zwischen die einzelnen Sätze der Totenmesse zu setzen, um einen anderen Blick auf das Werk zu bekommen.
Mozart brach am 5. Dezember 1791 in Takt 8 beim Lacrimosa ab, am Tag seines Todes. Was wird in Ihrer Aufführung passieren?
Wir präsentieren das von Franz Xaver Süßmayr komplettierte Werk. Ich habe über Jahre geforscht und bin persönlich davon überzeugt, dass er, als Assistent und Mitarbeiter Mozarts, die größte Nähe zu Mozarts Gedanken und Skizzen hatte. Das Dies irae stammt ja ohnehin großteils von Mozart. Aber auch bei den anderen Sätzen denke ich: Süßmayr wäre selbst gar nicht in der Lage gewesen, das Agnus Dei oder das Ende des Benedictus auf diesem Niveau zu komponieren.
Nikolaus Harnoncourt fragte sich, in welche Richtung Mozarts Musik gegangen wäre, wäre er nicht so tragisch und unerwartet gestorben.
Ich habe Nikolaus Harnoncourt sehr bewundert wegen der Art und Weise, wie er die Musik mit Philosophie und dem Humanismus unserer Tage verband. Er kämpfte für den wahren Ort der Musik in unserem Leben. Seine Frage ist eine sehr gute Frage. Wir werden nie erfahren, wie Mozart auf die Innovationen von Beethoven reagiert hätte oder auf Schubert. Gleichzeitig war sein Werk mit 36 Jahren vollendet in jederlei Hinsicht und von einer für mich unbegreiflichen Reife.
Sie selbst sind jetzt 38 Jahre alt. Sie wuchsen in Versailles auf, einem Ort, an dem man im Schlosspark über Lautsprecher mit Musik aus der Zeit des Sonnenkönigs Ludwigs XIV. beschallt wird… Lully, Rameau…
Mit meinem Ensemble Pygmalion haben wir viel französische Musik aufgenommen. Wir haben die Oper »Dardanus« von Jean-Philippe Rameau eingespielt, der am Versailler Hof wirkte. Und sein »Castor et Pollux«. Aber ich gebe zu: Johann Sebastian Bach war es, der mein Leben änderte, bereits als Junge. Meine Eltern waren keine Musiker, aber mein Vater spielte klassische Gitarre als Amateur und liebte die spanischen Komponisten Albéniz oder de Falla. Auch meine Mutter war eine Amateurpianistin. Morgens ging ich in die normale Schule, nachmittags dann in eine Art Konservatorium, wo wir in den Genuss einer fantastischen Musikerziehung kamen.
Wie kam es zu Ihrer Leidenschaft für den Thomaskantor aus der entfernten deutschen Provinz?
Nach dem Geigenunterricht wurde ich Mitglied der Maîtrise des Petits Chanteurs de Versailles, einem Knabenchor. Ein Projekt war die Johannes-Passion. Es war wie ein Schock, wie eine Explosion in meinem Kopf. Unglaublich! Ich hatte nie vorher eine solche emotionale Kraft erlebt. Diese Polyfonie, diese Akustik, diese chemische Reaktion zwischen Klang und dem Stein, dieser Nachhall. Ich war überwältigt. Ich habe das nie vergessen. Ich bin immer noch fasziniert. Polyfonie ist eine tiefgreifende existenzielle, transzendente Erfahrung. Man wächst mit dem Stück, alles transformiert sich. Man ist ein anderer Mensch nach einer solcher Musik. Und irgendwann wollte ich selbst diese chemische Reaktion nachahmen…
… und gründeten mit Anfang Zwanzig (!) 2006 Ihr mittlerweile preisgekröntes Ensemble Pygmalion.
In den ersten Jahren war ich die Hälfte der Zeit mit außermusikalischen Dingen beschäftigt. Es galt, einen Manager zu finden, öffentliche Institutionen um Subventionen zu bitten und auch private Sponsoren zu überzeugen. Gleichzeitig wollte ich mit meinen Musikerinnen und Musikern eine Philosophie, eine künstlerische Identität entwickeln.
Kennen Sie den psychologischen Pygmalion-Effekt, eine Art selbsterfüllende Prophezeiung, aber im positiven Sinne?
Ja, natürlich. Doch das interessierte mich nicht. Mir ging und geht es immer noch darum, Leidenschaft bei allen Musikerinnen und Musikern zu entfachen und in der Auseinandersetzung mit der Musik auf unser Publikum übertragen. Das wirkt sich auch physisch aus.
Als Linkshänder haben Sie bestimmt so manchen Musiker irritiert?
Eigentlich nicht. In der Ausbildung damals gab es natürlich Lehrer, die mich zwingen wollten, umzulernen. Professoren am Conservatoire haben mir sogar als jungem Studenten in der Dirigierklasse gesagt, ich würde als Linkshänder nicht weit kommen. Sie forderten mich auf, die Klasse zu verlassen, sollte ich nicht umlernen. Aber ich war irgendwie auch zu stolz und habe darauf nicht geachtet. Mehr noch: Vielleicht habe ich auch deshalb 2006 mein eigenes Ensemble gegründet. Zudem habe ich nicht unbedingt die traditionelle Dirigiertechnik. Ich versuche eher, ich selbst zu sein und hatte bisher kein Problem damit.
Wo man auch hinhört: Das Wort »authentisch« geistert durch alle Social-Media-Kanäle. Was bedeutet es Ihnen als Musiker und als Mensch?
Totaler Nonsens, kann ich da nur sagen. Eine reine Lüge. Wir leben im Jahr 2023. Es geht gar nicht darum, näher an der historischen Aufführung zu sein. Es geht um sehr viel mehr. Es geht darum, die Musik aus ihrem philosophischen Kontext heraus zu verstehen, in ihrer Emotion, ihrem Temperament, ihrem Inhalt. Wir müssen unsere eigene Wahrheit finden, in Verbindung mit dem Publikum.
Das Interview führte Teresa Pieschacón Raphael.
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- Mitwirkende
- Mitwirkende
- Ying Fang Sopran
- Beth Taylor Alt
- Laurence Kilsby Tenor
- Nahuel di Pierro Bass
- Chadi Lazreq Knabensopran
- Ensemble Pygmalion Chor und Orchester
- Raphaël Pichon Dirigent
- Programm
- Programm
- Anonymus »In paradisum«
- Wolfgang Amadeus Mozart »Ach! zu kurz« Doppelkanon KV 228
- Wolfgang Amadeus Mozart »Meistermusik« Urfassung der Maurerischen Trauermusik für Männerchor KV 477b
- Wolfgang Amadeus Mozart »Miserere mei« KV 90
- Wolfgang Amadeus Mozart Requiem für Soli, Chor und Orchester d-moll KV 626
- Wolfgang Amadeus Mozart »Ne pulvis et cinis« KV Anh. 122
- Wolfgang Amadeus Mozart Solfeggio F-Dur KV 393 Nr. 2 (Fassung für Orchester von Vincent Manac’h)
- Wolfgang Amadeus Mozart »Quis te comprehendat« KV Anh. 110
- Wolfgang Amadeus Mozart »O Gotteslamm« KV 343 Nr. 1
- Anonymus »In paradisum«
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