»Schlafen Sie wenig?«, fragt der WDR-Moderator Nicolas Tribes Lahav Shani in einem Radiointerview. Die Frage ist mehr als berechtigt: Der Künstler ist Dirigent und Pianist gleichzeitig – und in beiden Disziplinen extrem talentiert. Im September zaubert er die Saisoneröffnung auf die Konzerthaus-Bühne.
Seine Doppelbegabung hat ihm eine schwindelerregende Karriere eingebracht: Mit gerade einmal 29 Jahren wurde Lahav Shani 2018 jüngster Chefdirigent in der Geschichte des Rotterdam Philharmonic Orchestra. Seit der Saison 2020/21 ist er zudem Chefdirigent des ihm bestens vertrauten Israel Philharmonic Orchestra seiner Heimat und er übernimmt ab der Saison 2026/27 die Leitung der Münchner Philharmoniker. Auch hier ist seine Stabübernahme rekordverdächtig, einen ähnlich jungen Chef gab es bei den Münchnern seit über hundert Jahren nicht mehr. Jetzt könnte man meinen, ein so junger Dirigent kann doch das ganze Orchester-repertoire noch gar nicht draufhaben. Dass er das kann, hat Lahav Shani längst bewiesen: Er stand schon mit so ziemlich allen Orchestern von Weltrang auf der Bühne. Von den Wienern über die Berliner Philharmoniker bis zum London Symphony Orchestra – übrigens noch diese Spielzeit das Residenzorchester des Konzerthaus Dortmund –, Boston Symphony Orchestra und Royal Concertgebouw Orchestra, sie alle haben ihn schon zu sich eingeladen. Starallüren hat er trotzdem nicht. Stattdessen erlebt man ihn stets aufgeschlossen und unprätentiös. Wie er das eigentlich alles schaffe, frage er sich selbst auch oft, antwortet er dem Moderator auf seine Frage lachend ins Mikro.
Im Konzerthaus Dortmund zeigt sich der Exklusivkünstler gewohnt musikalisch neugierig und holt nicht nur erstmals sein Israel Philharmonic Orchestra ins Ruhrgebiet, sondern bringt auch ein Stück der israelischen Komponistin Betty Olivero mit, das in Dortmund seine Deutsche Erstaufführung erlebt. Begleitet wird er dabei von der Sopranistin Hila Baggio, die mit ihrer kristallklaren Stimme längst von sich reden macht. Beide verbindet eine lange Geschichte mit dem Israel Philharmonic Orchestra. Er, der dem Klangkörper zunächst als Bassist und jetzt als Dirigent eng verbunden ist, sie, die das Orchester schon als Kind mit ihrem Kinderchor bei Tourneen ins Ausland begleitete. Sie sind also alte Bekannte, die sich am Konzertabend in eine perfekte musikalische Symbiose begeben. Baggio hat mittlerweile über 30 Partien in ihrem Repertoire, erkundet aber gern musikalisches Neuland. So auch mit dem solistischen Sopranpart in Oliveros »Many waters«. Olivero gehört zu den führenden Komponistinnen Israels, von der »New York Times« als Entdeckung gefeiert und von einer der Ikonen der klassischen Moderne, Luciano Berio, als eine »sehr beeindruckende Stimme in der jüdischen Kultur« bezeichnet. In ihren Werken verbindet sie Einflüsse traditioneller Musik mit ihrer eigenen Klangwelt und scheut sich auch nicht davor, elektronische Elemente einzuflechten. So entstehen kraftvolle, fast schon hypnotische Stücke mit einem musikalischen Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Den Rahmen dieses Konzerts bilden Werke von Paul Ben-Haim und Gustav Mahler, die sich in vielerlei Hinsicht mit den Kompositionen von Olivero verknüpfen lassen. Alle drei binden Lieder und volkstümliche Elemente in ihre Kompositionen ein. Zu Zeiten Mahlers und Ben-Haims tobte zu genau diesem Thema in der Übergangszeit vom 19. ins 20. Jahrhundert in der Musikszene ein Grundsatzstreit. Die eine Seite hielt eisern an der »puren Musik« fest, äußerliche Einflüsse und Bezüge zu anderen Gattungen waren verpönt. Die andere Fraktion sah gerade in diesen Bezügen eine Bereicherung – und dazu zählen Mahler und Ben-Haim, auch wenn sie ganz unterschiedliche musikalische Wege einschlugen.
Ben-Haim floh im Jahr 1933 aus Deutschland vor den Nationalsozialisten nach Israel. Das Land war zu der Zeit musikalisches Ödland, es gab keine Orchester, dafür aber eine pulsierende, wachsende kreative Szene auf der Suche nach einer Identität und Sprache für ihre Kunst. In dieses Umfeld kam Ben-Haim, im Gepäck seine musikalische Erziehung aus Deutschland und geprägt von der Musik Mahlers und Strauss’. Das neue Land veränderte ihn, und vor allem eine Begegnung prägte ihn nachhaltig: die mit der charismatischen Bracha Zefira. Die Sängerin machte ihn mit persischen, kurdischen und jemenitischen Liedern bekannt, die in seine Kompositionen einflossen. So ist auch der zweite Satz ›Psalm‹ seiner Ersten Sinfonie, die Zefira gewidmet ist, von einem alten persischen Volkslied beeinflusst.
Im dritten Satz der Ersten Sinfonie von Gustav Mahler gibt es eine – die! – Passage mit hohem Wiedererkennungswert. Es erklingt der Kanon »Bruder Jakob«, allerdings in tristes Moll gehüllt. Denn es ist ein Trauermarsch, den der Komponist hier vertont. Allerdings kippt die Begräbnismusik immer wieder in ungarische Csárdás-Tanzmusik. Mahler lässt sich nicht nur von traditioneller Musik inspirieren, sondern will zunächst auch mit dem Titel »Titan« Bezug auf den gleichnamigen Roman von Jean Paul nehmen. Ob er nun eine Handlung vertont hatte oder ob er einfach nur Vergleichen mit Beethovens Sinfonien aus dem Weg gehen wollte, wusste er selbst nicht genau. Später überarbeitete Mahler seine Sinfonie jedenfalls.
Bezüge hin oder her, es finden sich in allen drei Kompositionen verschiedenste Zitate traditioneller Musik, die mitreißende Klänge entstehen lassen. Es ist ein auf besondere Weise miteinander verwobenes Programm, das Lahav Shani sich für das Eröffnungskonzert des Konzerthaus Dortmund ausgesucht hat und auch durch die enge Verbindung der Künstlerinnen und Künstler Melodien wahrhaft zu Magie werden lässt. Unter diesem Motto steht der diesjährige Spielzeitauftakt, und so beginnt die zauberhafte Reise bereits vor den Saaltüren: Das Eingangsfoyer verwandelt sich in einen Zauberwald und lässt das Publikum schon vor dem Konzert in die einmalige Atmosphäre dieses Abends eintauchen. Nach dem Konzert lädt das Konzerthaus Dortmund auf ein Glas Sekt aufs Haus ein, um auf den Zauber des Anfangs anzustoßen.
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- Mitwirkende
- Mitwirkende
- Israel Philharmonic Orchestra
- Lahav Shani Dirigent
- Hila Baggio Sopran
- Programm
- Programm
- Paul Ben-Haim ›Psalm‹ aus Sinfonie Nr. 1
- Betty Olivero »Many waters« für Sopran, Orchester und elektronische Klänge, Auftragswerk des Konzerthaus Dortmund und des Israel Philharmonic Orchestra (Deutsche Erstaufführung)
- – Pause –
- Gustav Mahler Sinfonie Nr. 1 D-Dur
- Edward Elgar ›Nimrod‹ aus »Enigma«-Variationen op. 36 (Zugabe)
- Johann Strauss (Sohn), Josef Strauss »Pizzicato-Polka« (Zugabe)
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